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Vorsicht, Seuchengefahr

Autoren: Inge Gugler
Linz, 2003
Gattung: Prosa | Veröffentlichungstyp: Literaturnetz

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Textproben:

Mein Mann und ich haben eine besondere Beziehung zur Natur. Mit allen Sinnen erfassen wir ihre Schönheit. Wir sehen die bunten Blumen in der Sommerwiese (er sieht darin nur den Mohn nicht, denn er ist rot-grün-blind), wir hören den Ruf des Bussards über den Fichten, wir fühlen die Rispen der Gräser zwischen den Fingern, wir schmecken die Säure des Ampfers, wir riechen den Duft der frischen Mahd. Unsere Freunde Ernst und Mimi haben einen anderen Zugang zur Natur, sie interessieren sich für alles, was in ihr verborgen bleibt, vornehmlich für Viren und Bakterien. Wir können die einundzwanzig Vogelarten an unserem Futterhaus benennen, sie wissen die Namen der vier Virusstämme in der diesjährigen Grippeimpfung. Jedesmal, wenn sie einen Besuch bei uns planen, rufen sie vorher an: ”Hallo, wie geht ’s euch?” ”Danke, prima, und euch?” ”Na ja, die Mimi hat wieder Kreuzschmerzen, gibt ’s bei euch noch keine Grippeviren?” Ich schaue unter den Tisch und sehe da nur Staubflusen, also antworte ich mit ruhigem Gewissen: ”Nein, nichts in Sicht.” ”Aber du klingst nach Schnupfen!” ”Ja, ein bißchen Schnupfen habe ich, aber Grippe ist es keine.” ”Eigentlich wollten wir heute bei euch vorbeikommen, aber wenn du Schnupfen hast, kommen wir lieber nicht.” Auch im Restaurant haben wir es schwer mit ihnen. Der Kellner hat keine Freude damit, daß wir während des Essens schon zum fünften Mal den Platz gewechselt haben. Am Tisch neben dem Eingang hatte es gezogen, am Tisch unter dem Ventilator waren uns sämtliche im Lokal anwesenden Bakterien ins Gesicht geschleudert worden, am Tisch unter dem Lautsprecher war uns beinahe das Trommelfell geplatzt, am Tisch in der Ecke mußte jeder Toilettenbesucher vorbeigehen, und einer von ihnen hatte gehustet, und unter dem letzten Tisch war ein Hund, sicher mit Flöhen, gelegen. Am liebsten laden uns Ernst und Mimi zu sich nach Hause ein, da haben sie die Dinge im Griff. Wir müssen eidesstattlich versichern, daß wir keine durch Viren oder Bakterien verursachte Krankheit haben, dann dürfen wir kommen. Aber sogar in dieser makellos sauberen Wohnung mit dem Seuchenteppich beim Eingang und den Fliegengittern vor den Fenstern kann etwas passieren. ”Da ist eine Gelse. Eine Gelse, Mimi! Wo kommt die Gelse her?” Mein Mann wagt zu sagen, von draußen vielleicht, aber niemand außer mir erfaßt den Scharfsinn dieser Bemerkung. Ernst und Mimi sind aufgesprungen und aus dem Zimmer geflüchtet. Die Gelse hat offensichtlich gemerkt, daß mein Mann und ich kein Interesse an ihr haben, und ist den beiden gefolgt. Wir hören Kampfgeräusche aus dem Vorraum. Wir zwinkern einander zu und überlegen uns, welchen aseptischen Operationssaal man wohl für ein gemütliches Beisammensein mit Freunden zu mieten bekäme. Morgen schreibe ich an den Gesundheitsminister, denn das ist doch endlich einmal ein innovativer Gedanke zur Senkung der Krankenkassendefizite!

/ 2003

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