Ziellose Bewegung
Autoren: Andreas Renoldner
2011
Sie erhebt sich. Geht zur Türe. Sperrt auf. Geht zu ihrem Platz am Tisch und setzt sich. Die Zimmertüre lässt sie offen, als habe sie darauf vergessen.
"Das Essen kommt erst in einer Stunde!", sage ich zu ihr.
"Ich muss meinen Platz besetzen. Sonst setzt sich jemand anderer hierher."
Obwohl mir die Pflegerin bestätigt, dass jede ihren fixen Platz hat, scheint es meiner Mutter nötig zu sein, ihren Platz zu verteidigen.
"Hat dir schon einmal jemand den Platz weggenommen?"
"Ich muss auf meinem Platz sitzen, damit ich keiner anderen den Platz wegnehme."
Jetzt kommt eine zweite Dame vorbei, sieht, dass meine Mutter am Tisch sitzt und setzt sich auf ihren Platz.
"Das Essen kommt erst in einer Stunde", sagt die Pflegerin.
Die beiden Frauen am Tisch halten ihre Stellung. Warum das nötig ist, kann ich nicht erkennen. Vermutlich ist es gleichgültig, ob sie stumm in ihren Zimmern oder stumm am Esstisch sitzen. Beide sitzen da, als hätten sie schon eine Gabel und ein Messer in der Faust. Bloß der Teller mit dem Essen fehlt noch.
/ 2011
Verlag: edition linz / Bibliothek der Provinz, Linz, Weitra, 2011