Eigentlich ist es ja ganz nett hier. Nichts besonders, aber ganz nett. Unserer Lehrerin hat zwar immer gesagt, „nett“ sei ein so nichtssagendes Wort. Aber ich finde, genau deshalb passt es. Nett ist es, und nichtssagend. Ein Haus, hell, aber eher kühl. Nicht, dass man hier frieren müsste, aber so richtig warm wird einem auch nicht. Die Zimmer alle gleich: zwei Betten, ein großer Kasten, zwei Schreibtische, Bücherborde über den Betten, eine gemütliche Ecke, ein Fenster, eine Tür, ein Teppich, ein Vorhang. Hell, aber nichtssagend. Ein Zimmer, in dem man sicher wohnen kann, aber sich wohl fühlen? Dabei habe ich noch Glück gehabt, das Mädchen vom anderen Bett, Claudia, scheint freundlich zu sein. Und sehr still. Wie ich angekommen bin, ist sie nur kurz herinnen gewesen, hat leise: „Hallo, Silvia!“ gesagt und ist gleich wieder gegangen.
Ruhig ist es. Ab und zu hört man das Zuschlagen einer Tür, leises Reden auf dem Gang, das Tappen von Schritten. Aber das stört nicht. Keiner kommt hier ins Zimmer geschlichen, keiner fasst mich an. Ich muss mich nicht fürchten.
Naja, so ganz bringe ich das ja noch nicht zusammen, das Nichtfürchten. Der dicke Knödel in meinem Hals ist immer noch da, ich kann schlucken, so viel ich will. Und wenn wer flüstert, zucke ich immer noch zusammen.
Ich muss lernen, mich hier sicher zu fühlen, hat die Ärztin gesagt. Und das ist ganz normal, wie ich reagiere. Was ich denn will nach der kurzen Zeit. Kurz? Mir kommt es schon wie eine Ewigkeit vor, dass ich da bin. Eine Woche, sieben Tage, 168 Stunden, 1008 Minuten, 60480 Sekunden ohne Angst. Fast ohne Angst.
Claudia hat auch Angst. Sie sagt es nicht, aber man kennt es ihr an. Sie erschrickt bei lauten Geräuschen, ihre Hände krampfen sich zusammen, wenn ihr jemand gegenüber steht. Nachts weint sie oft. Aber wir reden nicht darüber. Wir können einfach nicht darüber reden. Dazu sind ja die Betreuerinnen da, die Ärztin, die Erzieherin, die für unser Stockwerk verantwortlich ist. Immer wieder wird eine von uns aus dem Unterricht gerufen oder geholt. Wir wissen alle, dass es jetzt zur Therapie geht. Keine schaut auf den leeren Platz, keine macht eine Bemerkung. Jede von uns weiß, was los ist, obwohl jede eine andere Geschichte hat.
Geschichte. Wie das klingt! Wie ein Kindermärchen. Unsere Geschichten haben kein gutes Ende wie ein Märchen, sie haben nicht gut angefangen und sind noch nicht zu Ende. Wir stecken mitten drin in unseren Geschichten, gefangen wie in einem Alptraum, voller Angst, voller Hoffnung, endlich aufwachen zu können. Und wenn wir dann wach sind, ist die Wirklichkeit oft noch viel, viel schlimmer.
Nach dem Aufwachen traue ich mich oft gar nicht, die Augen aufzumachen. Erst wenn ich Claudia höre, weiß ich wieder, wo ich bin. Dann ist es leichter. Ich kann aufstehen, mich waschen und anziehen und mit den anderen frühstücken. Ich habe gar nicht gewusst, wie gut ein Frühstück sein kann. So eine Tasse Tee oder Kakao mit Brot, Butter, Käse oder Marmelade. Das kann schmecken, das kann man schlucken, wenn der Knödel im Hals weg ist. Oder zumindest beinahe. Früher habe ich in der Früh nichts essen können. Wenn ich es nur gerochen habe, musste ich mich schon übergeben. Mama hat das nie verstanden. Papa hat nur gelächelt und gesagt: „Lass sie doch! Wenn sie Hunger hat, wird sie schon essen. Nicht wahr, Silvia, mein Liebling?“
Papas Liebling! Die brave Tochter, die alles, wirklich alles tut, was Papa von ihr verlangt! Sabine weiß gar nicht, wie froh sie sein kann, dass ich Papas Liebling war. Sabine ist zehn, fünf Jahre jünger als ich. Und sie ist schrecklich eifersüchtig auf mich. Immer will sie sich in den Mittelpunkt spielen, klettert auf Papas Schoß und tut ihm schön, nur damit er sie auch beachtet. Und ich möchte immer schreien, wenn sie das macht: „Tu’s nicht! Gib Acht! Lass Papa in Ruhe!“ Doch ich schweige. Ich habe immer geschwiegen. Er hat es mir aufgetragen und als Papas gehorsame Tochter habe ich natürlich gefolgt.
Und jetzt bin ich hier, weil ich ihm einmal - ein einziges Mal bloß - nicht gefolgt habe. Weil ich nicht geschwiegen habe. Weil es aus mir herausgeplatzt ist, es konnte nicht mehr in mir bleiben, es kam wieder zum Vorschein wie das verhasste Frühstück.
Dabei wollte ich das ja nicht. Ich wollte doch Papa keinen Kummer machen oder Mama oder Sabine. Ich habe alles kaputt gemacht.
Verdammt, jetzt kommen mir schon wieder die Tränen! Ich will nicht mehr weinen. Ich habe schon genug geweint. Besonders wie alles angefangen hat. Da war ich so alt wie Sabine jetzt. Da habe ich noch nicht gewusst, was er von mir erwartet. Und ich wollte doch alles richtig machen. Und dann in der letzten Zeit, da habe ich wieder viel geweint. Ich wollte, dass das alles aufhört. Ich habe mich gewehrt und habe doch gleichzeitig gewusst, dass ich mich nicht wehren darf. Wegen Mama und hauptsächlich wegen Sabine. Sonst muss sie weinen. Und das könnte ich nicht aushalten. Sie ist doch meine kleine Schwester und ich muss sie beschützen. Nur - wie kann ich das, wenn ich hier bin? Ob Mama sie beschützt? Ob sie das kann? Besser als bei mir? Ob es ihr je aufgefallen ist, wie oft ich geweint habe, wie oft ich mich nach dem Frühstück übergeben habe? Ich habe es nie gewagt, sie danach zu fragen. Jede Antwort hätte mir zu weh getan.
Ob es ihr Leid tut, dass ich jetzt weg bin? Sie hat nichts gesagt, als man mich und Papa abgeholt hat. Sie hat nur geschaut mit ganz dunklen Augen. Dann hat sie Papa einen verzweifelten Blick zugeworfen und Sabine fest an sich gedrückt. Zu mir hat sie kein einziges Wort gesagt. Nicht ein einziges.
Nicht einmal auf Wiedersehen.
Sabine tut mir Leid. Sie versteht das alles nicht. Mama tut mir nicht Leid. Sie ist erwachsen und hat nichts gemerkt. Ich habe geschwiegen - wegen ihr und wegen Sabine. Und sie hat nichts gemerkt. Nein, sie kann mir nicht Leid tun. Oder vielleicht nur ein kleines bisschen. Sie hat jetzt niemanden mehr, mit dem sie reden kann. Ich habe hier die Ärztin, die Betreuerinnen und die Erzieherin in unserem Stockwerk. Die sind alle okay. Die fragen dich kurz, und wenn du keine Antwort geben willst, lassen sie dich in Ruhe, bis du selber bereit bist.
Ich bin noch nicht bereit. Mir ist das alles ein wenig zu schnell gegangen. Ich will mit niemandem reden. Höchstens mit Sabine. Um ihr alles zu erklären. Aber Sabine ist nicht hier, sie darf mich auch noch nicht besuchen. Und selbst wenn sie käme, könnte ich nicht darüber reden. Darüber kann ich überhaupt nie mit wem reden, denke ich.
Nein, das stimmt nicht. Ich habe ja schon geredet. Und da war es ganz leicht. Wenn ich geahnt hätte, wie leicht, wäre ich vielleicht schon viel früher zum Hausarzt gegangen. Aber was hätte ich bei ihm sollen? Es hat mir ja nichts gefehlt. Und wie ich dann bei ihm war, hat mir auch nichts gefehlt, im Gegenteil, ich hatte was zu viel in meinem Bauch. Papa ist es aufgefallen. Mama nicht. Papa hat es gemerkt, dass ich mich noch öfter übergeben habe als sonst und dass ich so blass war. Und dann hat er mich gefragt, wann ich meine Tage zuletzt gehabt hätte. Als ich es ihm vorgerechnet habe, hat er schnell einen Termin beim Hausarzt vereinbart, der hat dann eine Überweisung zum Gynäkologen geschrieben und am nächsten Tag war ich schon in der Klinik. Papa hat mich besucht, Mama nicht. Sie war wütend, dass ich ihr nichts gesagt habe. Was hätte ich ihr sagen sollen? Sie wollte wissen, wer der Kerl war, von dem ich ein Kind bekommen hätte sollen. Was hätte ich ihr sagen sollen?
Der Hausarzt hat mich nach meiner Entlassung aus dem Spital auch gefragt. Und dem habe ich die Wahrheit gesagt. Ganz leicht war das.
Und deshalb bin ich hier. Ich soll mich erholen, soll Abstand gewinnen, hat die Ärztin gesagt. Und ich soll versuchen, meine Angst abzulegen. Aber so leicht ist das nicht. Besonders in der Nacht kommt sie, diese Angst, der enge Knödel in meinem Hals, das Schwitzen und Frieren gleichzeitig. Das Horchen auf Schritte, die immer näher zur Tür kommen, das leise Geräusch, wenn die Klinke hinunter gedrückt wird. Das hektische Atmen. Die Hände, die überall gleichzeitig sind.
Eben jetzt wird die Tür zu meinem Zimmer geöffnet, ich fahre herum. Aber es ist bloß Claudia. Sie schaut mich an. Und in ihren Augen sehe ich, dass sie Bescheid weiß. Eigentlich geht es den meisten hier so wie mir. Sie müssen lernen, mit ihrer Angst fertig zu werden, sich nicht von ihr auffressen zu lassen. Wir müssen alle wieder leben lernen, ganz einfach. Ohne Knödel im Hals, ohne schweißnasse Hände. Ohne Tränen, die keiner sehen darf.
Zu Hause habe ich auch nur in meinem Zimmer geweint. Besonders dann, wenn mir wieder alles weh getan hat. Oder wenn Sabine so eifersüchtig auf mich war. Ich habe immer gewusst, solange ich da bin, solange ich das alles auf mich nehme, hat sie Ruhe. Aber erklären hab ich ihr das nicht können. Ich kann doch nicht hingehen und sagen: „Hör einmal, ich bin Papas Liebling. Solange ich das bin, lässt er dich in Ruhe. Du merkst nichts und Mama auch nicht. Das ist unser Deal.“ Wie hätte sie wohl reagiert? Und was hätte Mama wohl gesagt, wenn sie das gewusst hätte?
Nein, das habe ich allein aushalten müssen. Bis zu dem Zeitpunkt, wo ich schwanger geworden bin. Da habe ich es nicht mehr ausgehalten. Da wollte ich nicht mehr. Da war mir eigentlich alles egal, sogar Mama und Sabine.
Nur Papa nicht. Das ist doch komisch. Immer geht es nur darum, was Papa denkt. Ich will Papa keinen Kummer machen, darum lerne ich brav und bin gut in der Schule. Ich will Papa nicht ärgern, deshalb widerspreche ich ihm nicht. Ich will Papa nicht kränken, aus dem Grund bewahre ich unser Geheimnis.
Ich habe immer Rücksicht auf Papa genommen, er aber nie auf mich. Ihm war es eigentlich immer egal, wie es mir geht. Er hat mich dann damit getröstet, dass ich sein Liebling bin und das alles in Ordnung ist, weil er mich doch so lieb hat. Und ob ich ihn denn nicht auch so lieb hätte? Natürlich Papa, ich habe dich auch lieb. Darum ertrage ich das alles. Ich könnte es nicht aushalten, deine Liebe zu verlieren. Und das hast du mir immer wieder angedroht: „Wenn du nicht schweigst, Silvia, Liebling, dann hat Papa dich nicht mehr lieb!“ Wie hätte ich das aushalten können?
Ich schaue vorsichtig zu Claudia hinüber, die an ihrem Schreibtisch sitzt und schreibt. Verstohlen trockne ich mir die Tränen ab. Nein, sie hat nichts gemerkt. Und wenn, dann wird sie so tun, als hätte sie nicht. Wir hier tun alle so, als würden wir nicht merken, wenn es einer von uns schlecht geht. Zumindest am Anfang ist es so, hat die Ärztin gesagt.
Die ist übrigens sehr nett. Eine ruhige schmale Frau mit dunkelblonden Haaren, die immer ein wenig unfrisiert aussehen. Stundenlang kann sie stumm dasitzen und warten, bis du endlich einmal ein Wort von dir gibst. Oder gar einen Satz. Nie drängt sie dich, nie wird sie ungeduldig. Wenn sie merkt, dass es gar nicht gehen will, denn sagt sie nur: „Komm, mach dir keine Sorgen, das nächste Mal klappt’s bestimmt!“ Und du hast nicht das Gefühl, versagt zu haben.
Sonst habe ich dieses Gefühl oft: Ich habe versagt. Silvia ist nicht das perfekte Kind ihres Vaters. Sie hat einen Fehler gemacht, einen entscheidenden, nicht wieder gut zu machenden Fehler. Und darum kann Papa sie jetzt nicht mehr liebhaben. Und darum ist Papa jetzt traurig. Und darum weint Silvia. Es ist wie ein Kreisel, der sich immer um die eigene Achse dreht. Aber er brummt nicht beruhigend. Schuld, Schuld, Schuld singt der Kreisel.
Die Ärztin meint, dass ich nichts dafür kann. Was weiß denn die! Ich bin schuld, dass es Papa und mir nicht gut geht. Ich allein. Hätte ich bloß den Mund gehalten, damals beim Hausarzt! Aber ich war so fertig, wie ich erfahren habe, dass ich schwanger bin! Das hätte doch nicht passieren dürfen. Papa hat gesagt, dass es meine Schuld war. Wahrscheinlich hat er Recht. Er hat doch immer Recht. Und er sagt immer, was zu tun ist. Erst Mama und dann mir. Und wir gehorchen. Ob ihm Sabine jetzt gehorchen muss? Aber nein, Papa ist ja nicht mehr zuhause. Papa haben sie auch weg gebracht, so wie mich. Ob er jetzt auch in einem Heim ist, in einem Heim für verratene Väter?
Keiner sagt es mir. Ich weiß nicht, wie es Sabine geht, was Mama macht, wo Papa ist. Keiner spricht von Zuhause, und ich wage es nicht zu fragen. Denn wenn sie sagen, dass es ihnen alles schlecht geht, dann habe wieder ich Schuld. Und ich weiß nicht, ob ich das alles ertragen könnte.
Das habe ich der Ärztin schon gesagt. Ich könnte es nicht ertragen, wenn ich an allem schuld bin. Und sie hat mich ganz ruhig angesehen und nur gesagt: „Du bist nicht schuld, Silvia, glaub mir das! Kinder sind nie schuld. Nur die Erwachsenen.“ Aber die kennt Papa nicht. Papa kann nicht schuld sein, der nicht, niemals! Da hat sie den Kopf geschüttelt und mich zum ersten Mal etwas gefragt. Ganz leise war ihre Stimme, ganz beruhigend. Und ich hab mit ihr reden können wie mit dem Hausarzt. Und ich hab mich nicht geschämt. Alles hab ich ihr gesagt, alles, von Anfang an.
Es war schrecklich. Mama war auf Kur, Sabine hat bei Oma geschlafen und ich durfte zu Papa ins große Bett. Wir haben gekuschelt und uns gekitzelt, das war lustig. Und dann hat mich Papa wo gekitzelt, wo es mir unangenehm war. Ich habe gesagt: „Papa, nicht, das mag ich nicht!“, aber er hat nur gelacht und nicht aufgehört. Dann hat er so schnell geatmet und gestöhnt, dass ich Angst bekommen habe, dass er vielleicht krank ist. Aber am nächsten Tag war er wieder gesund. Und er hat gemeint, wenn ich brav bin und keinem was erzähle, darf ich wieder bei ihm im großen Bett schlafen.
Später, als Mama schon wieder daheim war, ist er in der Nacht in mein Zimmer geschlichen und hat mich angefasst. Ich wollte das nicht, er war so schwer, das war mir so unangenehm!
„Siehst du“, hat die Ärztin gemeint, „du hast nicht angefangen. Der ist schuld, der angefangen hat.“
Aber das Kitzeln und Streicheln war doch irgendwie schön. Nur -
„Nur dort, wo es unangenehm wird, ist es nicht mehr schön, nicht wahr? Und da beginnt das Unrecht, Silvia. Dein Papa hat dir Unrecht getan. Du kannst ihm nicht die Schuld dafür geben, weil du ihn liebst. Jetzt gibst du dir die Schuld. Du bist hier, um zu lernen, dass auch Erwachsene Fehler machen und ihren Kindern Unrecht tun, obwohl sie sie lieben. Und dein Papa hat auch Gelegenheit, über alles nachzudenken.“
Ich habe nur genickt. Irgendwie bin ich jetzt erleichtert. Obwohl - wird Mama das jemals verstehen? Ich habe ihr doch Papa weggenommen, ich bin schuld, dass Papa jetzt nicht mehr bei ihr ist. Kann Mama mir das verzeihen?
Was, Besuch ist da für mich? Mama?
Mama, so wein doch nicht, es tut mir ja so Leid, dass Papa -“.
„Ach, Silvia, bitte verzeih du mir! Ich habe anfangs wirklich nichts gemerkt. Und als ich dann einen Verdacht hatte, hab ich es einfach nicht glauben wollen. Und du hast auch nie was gesagt. Es tut mir so Leid, dass du das alles durchmachen musstest. Kannst du mir verzeihen?“
Es ist schön, in Mamas Armen zu liegen. Mein Herz ist ganz leicht und der Knödel in meinem Hals ist auch verschwunden. Nächste Woche darf ich wieder heim. Dann fahren Mama, Sabine und ich zwei Wochen ans Meer. Und nach dem Urlaub fangen wir drei von vorne an.
/ 2003