Oma Henriette ist weit über 90. Sie sorgt für sich allein. Immer, wenn sie einkaufen geht, dann sagt der Fleischhauer: „Sie ist halt schon ein wenig vergesslich. Gestern erst hat sie Futter für ihre Katzen gekauft, ihr Schnitzel hat sie aber liegengelassen.“
Dann sagt der Gemüsehändler: „Sie muss verrückt sein, noch alleine zu leben! Sie sieht schon so schlecht, dass sie sich andauernd beim Gemüseputzen schneidet.“
Dann sagt die Trafikantin: „Sie kennt sich oft gar nicht mehr aus. Heute war sie schon zweimal bei mir um ihre Tageszeitung.“
Dann sagt die Hausbesorgerin: „Ach die Alte! Die spinnt ja! Die kennt nicht einmal die Leute, die im Haus wohnen!“
Dann sagt der junge Verkäufer in der Drogerie: „Sie wirkt so ungepflegt! Ich glaube, sie wäscht sich nicht einmal mehr ihre Haare! So alte Leute gehören in ein Heim.“
Dann sagt die Bäckersfrau: „ Sie ist richtig geizig! Bei mir kauft sie immer altbackenes Brot, nur weil es ein wenig billiger ist. Dabei bekommt sie doch sicher eine schöne Pension.“
Dann sagt der Lebensmittelhändler: „Ein wenig wunderlich ist sie wirklich schon! Oft vergisst sie, Geld mitzunehmen und lässt anschreiben. Und wenn ich sie dann erinnere, dass sie endlich zahlen soll, schimpft sie laut und wird böse.“
Dann sagt die Milchfrau: „Ihre Zähne sind wohl auch nicht mehr die besten. Naja, das Joghurt und den Topfen braucht sie ja nicht zu beißen.“
Dann rufen ihr die Kinder nach: „Oma Henriette, das ist keine Nette. Gibt uns keine Keks. Ist ‘ne alte Hex!“
Und eines Tages findet man Oma Henriette tot in ihrer Wohnung, nachdem sie über eine Woche nicht einkaufen war. Ganz friedlich muss sie eingeschlafen sein. Und bei ihrem Begräbnis sagen der Fleischhauer, der Gemüsehändler, die Trafikantin, die Hausbesorgerin, der junge Verkäufer in der Drogerie, die Bäckersfrau, der Lebensmittelhändler, die Milchfrau und die Kinder: „Oma Henriette war eine so nette alte Frau! Und so rüstig für ihr Alter! Schade um sie.“
/ 2003