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My Private Angel

Autoren: Werner Stangl
Linz, 2010
Gattung: Prosa | Veröffentlichungstyp: Buch

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Textproben:

My Private Angel

„Hab mich gern!“ sagte der Engel, flog auf seine Wolke, faltete die Hände und verdrehte die Augen nach oben, so wie man es auf manchen Barockfresken in katholischen Kirchen sieht.
Das machte er immer, wenn er beleidigt ist.
Da hilft dann kein „Hab dich nicht so!“ oder „Ich hab’s ja nicht so gemeint!“
Da ist er stur. Und wenn er besonders sauer auf mich ist, fängt er auch noch ein „Halleluja“ zu singen an, obwohl er wie die meisten Engel nicht wirklich singen kann. Das Gerede vom himmlisch schönen Engelsgesang ist ein Märchen wie vieles, das man uns Menschen in der Schule erzählt hat.
So ein privater Engel ist im Allgemeinen recht praktisch und beinahe immer da, wenn man ihn braucht. Kaum weiß man einmal nicht weiter, kommt er angeflattert: „Mein Chef hat gesagt, ich soll dir helfen. Was gibt’s?“
Meist schicke ich ihn wieder zurück auf seine Wolke Nummer 17-11-47. Jeder Engel sitzt nämlich auf einer nummerierten Wolke mit einer Art himmlischer Sozialversicherungsnummer. Dieses System wurde bei der großen Verwaltungsreform Anno 1517 eingeführt, als es immer wieder zu Streitigkeiten zwischen den Schutzengeln gekommen war, Wolkenbewirtschaftung gewissermaßen. Das hat meiner in der Schule gelernt.
Engel gehen parallel zu uns Menschen in eine Engelsschule. Das fördert den Zusammenhalt und die Solidarität, wenn man zur gleichen Zeit die Schulbank bzw. die Schulwolke drückt. In den Klosterschulen des Mittelalters saßen die Engel gemeinsam mit den Schülern – damals gab es noch keine Schülerinnen – in einer Klasse. Jeder Engel saß auf der Schulter seines Schützlings und lernte mit. Im Gegensatz zu Menschen sind Engel nicht vergesslich. Bei uns ist das bekanntlich anders. Beim Lernen durften die Engel noch helfen, das Einsagen bei Prüfungen war aber bei Strafe verboten. Man kann sich wohl vorstellen, wie es einem Engel erging, wenn sein Schützling bei einer Prüfung nicht weiter wusste. Flüsterte der Engel manchmal aus Verzweiflung schon seine Flügel ringend seinem Schützling doch die Antwort zu, dann wurde die Prüfung seelisch für ungültig erklärt – schlechtes Gewissen! - und der Engel musste für ein paar Tage auf die Strafwolke, wo er auf einer winzigen Schiefertafel schreiben musste: „Ich darf nicht einsagen!“ Da wenig Platz auf der Schiefertafel war, gab es danach einen Regenguss, der das eben Geschriebene wieder löschte und abermals geschrieben werden musste. Bei dem Guss wurde auch der Engel nass und man kann sich vorstellen, dass das auch für ein so durchlässiges Wesen wie einen Engel nicht angenehm war. Bevor er dann wieder zu seinem Schützling zurückgeschickt wurde, kam er für ein paar Stunden in die Hölle zum Trocknen.
Dieses Mal war mein Engel richtig sauer, denn schon im Wegfliegen stimmte er ein Halleluja an, dass ich mir die Ohren zuhielt. Was war geschehen? Ich hatte beschlossen, meine Partnerin zu verlassen. Zu sehr hatte sie mich in tiefster Seele enttäuscht. In die Wut mischte sich Enttäuschung, denn auch mein Schutzengel hatte mich frustriert sitzen lassen. Es gelang mir nicht, ihn zu einem Gespräch zu bewegen. „Für Trennungen sind wir nicht zuständig! Da musst du dir schon einen Teufel suchen!“
Bei Liebeskummer sind Engel generell nicht brauchbar. Meist sitzen sie heulend in der Ecke und jammern, wie lieblos die Welt doch geworden sei. Manchmal raufen sie auch mit dem Schutzengel des anderen, sofern der katholisch ist. Die Evangelischen – und meine Partnerin war eine Evangelische - besitzen keinen Schutzengel, sondern einen Bibelspruch, den man ihnen bei der Taufe um den Hals wickelt. Der hat zwar letztlich dieselbe Funktion wie ein Engel, aber ein Bibelspruch auf einem Band ist bei weitem nicht so einfühlend wie ein katholischer Schutzengel. Bei Liebeskummer war mein Engel daher in meinem Leben nie wirklich hilfreich gewesen, denn der Kummer eskalierte meist kontinuierlich und dann heulten wir beide um die Wette. So viele Papiertaschentücher hat kein Sterblicher zu Hause und bei Engeln müssen die auch noch nach Weihrauch riechen, was allem einen zutiefst feierlich-deprimierenden Touch verleiht.
Engel sind sehr geruchsempfindlich, sie riechen eine brenzlige Situation einen Kilometer gegen den Wind, um uns Menschen rechtzeitig vor Dummheiten bewahren zu können. Besonders empfindlich sind sie gegenüber Pech und Schwefel. Vermutlich kommt das von den Trocknungen in der Hölle.
Manchmal werden auch erfahrene Schutzengel von den Ereignissen überrascht und da kann ihren Schutzbefohlenen das Schicksal schon gehörig um die Ohren fliegen. Tagelang kann man sich ein betretenes „Bei Gott! Ich hab’s wirklich nicht vorhergesehen!“ anhören. Statt den Menschen zu trösten, sind sie mit der Wiederherstellung ihres angeknacksten Ego beschäftigt. Dieses Mal ist mein Engel genauso wie ich aus allen Wolken gefallen. Wir purzelten beide hinab, hinab, hinab …
Ich war jedoch nicht nur aus allen Wolken gefallen, sondern auch mitten in der Hölle gelandet. Da saß er nun, mein privater Teufel – auch die werden einem bei der Geburt zugeordnet und sitzen dann auf einem nummerierten Glutnest mit der umgekehrten Nummer 74-11-71 - und lächelte mir zu. So breit und freundlich wie mein Engel gar nicht lächeln konnte. Für die Aquisitionsphase sind Teufel entschieden besser geschult.
Und da war auch schon das erste Angebot: „Retaliation in kind“ im Managerjargon. Oder auf biblisch: „Auge um Auge, Zahn um Zahn!“ „Haben wir gerade in Aktion“, lockte der Teufel. „Ist ohne Nebenwirkungen und wirkt sofort!“ Der Teufel wachelte mit dem Vertrag: „Einfach unterschreiben und all deine Probleme sind weg!“ Er hielt mir eine goldene Füllfeder hin, die eigentlich ein kleiner Flammenwerfer war. Um aus der Hitze wegzukommen, nahm ich das Schreibwerkzeug und setzte schon zur Unterschrift an, dort, wohin er ein kleines brennendes Kreuzchen in den Vertrag gesetzt hatte. Unter dem Unterschriftsfeld entdeckte ich einen großen glosenden Fleck. „Was ist das?“ fragte ich.
„Nur die üblichen Standardklauseln, die brauchst du nicht lesen!“
Ich zögerte.
„Ja, lies sie genau!“ hörte ich von Ferne ein beschwörendes Rufen. Mein Schutzengel flatterte als kleiner Lichtpunkt - wie ein Glühwürmchen in einem toskanischen Weinberg - erregt auf und ab: „Unterschreib nicht! Du verkaufst deine Seele und dein Glück dazu!“
„Habt ihr hier denn kein besseres Licht?“ fragte ich, um Zeit zu gewinnen.
„Wozu braucht der Mensch ein Licht?“
„Um das Kleingedruckte zu lesen“, entgegnete ich. „Ich werde den Vertrag einmal mitnehmen und komme morgen wieder vorbei!“
„Das kannst du doch nicht machen! Morgen ist die Aktion vielleicht vorbei!“
„Das Risiko muss ich eingehen! Vielleicht ist es dann ja auch noch billiger!“ Schließlich kannte ich den Ausverkauf nach dem Ausverkauf recht gut.
Ich faltete den Vertrag zusammen und fuhr, umschwirrt von den Überredungsversuchen meines Teufels - dabei haben sie paradoxerweise Engelszungen -, mit einem klapprigen, ächzenden Lift ins Erdgeschoß, wo ich mit meiner Partnerin gelebt hatte. Die Fahrt währte im Gegensatz zum sekundenschnellen Fall einige Tage, denn der Lift fuhr absichtlich so langsam. Manchmal hielt er an – angeblich wegen technischer Probleme oder einer verspäteten Übergabe aus dem Fegefeuer -, während aus einem Lautsprecher verlockende Melodien tönten, wie sie in Kaufhäusern zur Kaufanimation eingesetzt werden.
Endlich war ich wieder in meiner vertrauten Welt angelangt. Mein Schutzengel flatterte um mich herum. „Ist dir auch nichts passiert? Mein Gott, ich habe solche Angst gehabt, dass du den Vertrag unterschreibst!“
„Ich werde ihn unterschreiben!“ versicherte ich. „Ich muss nur noch das Kleingedruckte lesen! Morgen gehe ich zurück und …!“
„Das kannst du mir doch nicht antun! Halleluja! Halleluja! Halleluja!“
Schutzengel fluchen natürlich nicht. Höchstens ein „Halleluja“ oder ein „Jessas Maria!“ kommt über ihre Lippen – damit ist ihr einschlägiges Repertoire aber schon erschöpft. Das Fluchen überlassen sie uns Menschen. Dann muss man als Sterblicher allerdings damit rechnen, dass sie einen böse anschauen – auch Schutzengel können böse dreinschauen! - und kopfschüttelnd in den Herrgottswinkel flattern, um für unsere durch das Fluchen beschmutzte Seele ein paar Vaterunser zu beten. Bei manchen Menschen kommen sie aus dem Beten gar nicht heraus. Da ist dann schon Wiedergutmachung angesagt, etwa ein paar Sonntage in die Kirche gehen oder gar vor jeder Kirche, an der man vorbeikommt, ein Kreuz zu machen. „Das machst du doch nur wegen mir, und nicht wegen meinem Chef!“ Durchschaut wird man von Engeln nämlich auch.
Und täuschen kann man seinen Schutzengel überhaupt nicht. Ich habe es in meiner Kindheit ein paar Mal probiert, aber es ist stets kläglich gescheitert. Über dem Kinderbett hing zur Warnung das Bild meines Schutzengels, wie er mich gerade sicher über eine Brücke über einen tosenden Bach geleitet. Da versuchte ich unter der Decke eine Tafel Schokolade zu Naschen, die ich am Nachmittag in einem Laden ohne zu bezahlen in meine Schultasche gesteckt hatte. Sein damaliges Zeter und Mordio hängt mir auch fünfzig Jahre danach noch in den Ohren, sodass ich seither in keinem Supermarkt vergessen habe, etwas auf das Fließband zu legen. Die Rationalisten nennen das wohl „Gewissen“. Kaum hatte ich unter der Tuchent das knisternde Stanniolpapier vorsichtig geöffnet, damit er es auf seinem Bild nicht hört, spürte ich den Flügelschlag an meinem Ohr und seine Stimme sagte bedrohlich: „Schämst du dich denn gar nicht? Machst Schokoladeflecken in das Leintuch und deine Mutter kann das wieder auswaschen!“ Als ich betreten die verbotene Süßigkeit wieder in das Stanniolpapier einwickeln wollte, sagte er: „Komm, lass mich machen!“ Er brach ein kleines Stück ab und steckte es sich in den Mund. „Willst du auch ein Stück?“ fragte er dann, „die ist hinüber und die kannst du doch nicht zurücktragen!“ Wir haben die Schokolade dann gemeinsam verspeist, wobei er die kleinen Blöcke im Flug in meinen Mund schob, damit die unter der warmen Tuchent schon fast flüssige Schokolade keine Flecken machte. Engel machen keine Flecken, die sind zum Fleckentfernen da. Dieses Mal waren nach meiner Rückkehr aus der Hölle aber Flecken überall, so viele, dass ich sie nicht zählen konnte. Es war, als wäre ein prall mit all dem Schmutz des Lebens gefüllter Luftballon all jener Illusionen zerplatzt, die sich im Laufe eines langen Lebens fast zwangsläufig ansammeln – schlechte Gewohnheiten, lieblose Unaufmerksamkeiten, provokante Sticheleien, gedankenlose Rücksichtslosigkeiten, Unverständnis aus Bequemlichkeit, grundlose Eifersucht, Zorn über Triviales – alles, was es in einem katholischen Schulkatechismus so an Sünden zu lesen gibt. Kleinigkeiten im Einzelnen, aber in der Summe so groß, dass sie eines Tages all das Schöne, das es auch gegeben hatte, zudeckten. Ich sah ringsum keine Stelle mehr, wohin ich meinen Fuß hätte setzen können, ohne nicht wieder in eine der noch feuchten Schmutzlachen zu treten. Ich war ernüchtert und verzweifelt.
„Du willst doch den Vertrag nicht wirklich unterschreiben! Das ist doch nicht dein Stil!“
„Warum sollte ich nicht mit gleicher Münze zurückzahlen? Hast du etwas Besseres anzubieten?“ „Nein“, sagte mein Engel ein wenig kleinlaut, „denn so weit kann auch ich nicht in die Zukunft schauen! Das kann nur der Chef.“
„Frag ihn,“ forderte ich ihn auf, obwohl ich genau wusste, dass man von der Leitungsebene nie eindeutige Antworten erhält, sondern nur vage Formulierungen wie „Unsere Verträge sind auf Nachhaltigkeit ausgerichtet!“ oder „Mit uns haben Sie in eine glänzende Zukunft!“
„Aber schau dir doch all die Flecken an, wie sollen wir die jemals wegbekommen?“ sagte ich resignierend.
Ganz betrübt saß mein Schutzengel da und schaute mich starr an, als ob er in meinen Augen eine Lösung hätte finden können, in denen ob der Ausweglosigkeit der Situation abermals Tränen standen.
„Hör auf zu Heulen!“ bat er, sonst muss ich auch wieder heulen und die Taschentücher sind uns beim letzten Mal ausgegangen!“
„Die braucht man in der Hölle auch nicht!“ trumpfte ich auf. In der Hölle gibt es auf Grund der Hitze nämlich keine Tränen, sondern nur das prasselnde Feuer der Schadenfreude, des Triumphes, recht zu haben, und der süßen Rache.
„Aber all das Schöne, dass du bisher in deinem Leben mit ihr erlebt hast, das ist dann doch auch mit einem Federstrich weg!“
Damit hatte er zwar recht, denn das Aufgeben der gemeinsamen Vergangenheit war einer der Hauptpunkte im Vertrag mit dem Teufel, doch das war in meiner tristen Lage eher verlockend: „No way back!“
Dennoch schwieg ich angesichts meiner und meines Engels Ratlosigkeit erst auch einmal.
Die Erde drehte sich inzwischen ein paar Mal um sich selber. Ich weiß nicht wie oft. Wir – mein Engel und ich - schwiegen und ließen uns einfach drehen. Irgendwann dann:
„Halleluja! Ich hab’s! Sie ist doch eine Evangelische!“
„Ja, mit einem Band um den Hals“, bestätigte ich nach einigem Zögern. „Schon ein wenig vom Leben zerknittert …“
„Daran bist du nicht unschuldig, und für die Flecken hier überall aus eurem Leben bist in der Mehrzahl du selber verantwortlich!“
„Nur der riesige Fleck da ganz vorne, der ist sicher nicht von mir!“
„Fleck ist Fleck!“ sagte mein Schutzengel. „Wir brauchen Hilfe!“
„Wie stellst du dir das vor?“ rief ich meinem Engel nach, der plötzlich ganz aufgeregt mit seinen Flügeln flatternd wie eine Feuerwerksrakete abhob.

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich da gesessen hatte, denn ich war nach endlos langem Grübeln, in denen ein Teufel und ein Engel miteinander kämpften, in einen erlösenden, traumlosen Schlaf gefallen, als ich hinter mir ein Getuschel hörte: „Das ist er!“
„Der ist aber ganz schön ramponiert und die vielen Flecken überall! Na, ich weiß nicht, ob ich mir das antun will!“
„Du brauchst dich um ihn und um seine Flecken nicht zu kümmern! Ich bin zwar auch nicht mehr der Jüngste, aber einmal schaffe ich es sicher noch, diese Flecken wegzuputzen! Du bist allein für ihre Flecken verantwortlich, also diesen größeren Fleck und ein paar kleine Fleckchen da drüben …“
„Aber sie ist doch eine Evangelische und da sind wir nicht zuständig!“
„Aber wir haben den gleichen Chef! Er hat gesagt: Ausnahmsweise bekommt eine Evangelische für eine kurze, schwere Zeit einen Reserveengel zur Seite gestellt, wenn das lutherische Bändchen nicht mehr hilft. Und dazu hat er dich bestimmt! Da kannst du gar nichts mehr machen!“
„Ja, sie ist ohnehin ganz nett für eine Evangelische!“
Als ich mich umsah, flatterte hinter meinem Engel, der einen riesigen Wischmopp in der einen und eine Großflasche Putzmittel in der anderen Hand hielt, ein mir bisher unbekannter Engel davon.
Mein Engel setzte sein strahlendstes Lächeln auf: „Ich hab ihr bei IHM auch einen Engel herausgerissen! Der hilft uns Vieren jetzt beim Aufräumen! Du musst mitmachen! Ans Werk, lieber Freund!“
Diese Aufforderung war in einem Tonfall ausgesprochen, der keinen Widerspruch zuließ. Manchmal war er gar nicht wie ein sanfter Engel zu mir. Vielleicht hätte mir früher eine solche Strenge schon das eine oder andere Mal gut getan. Ach, lassen wir das.
So ist er eben, mein persönlicher Schutzengel. Ich muss mich also an die Arbeit machen und mit ihm die Flecken rundum wegputzen. Was bleibt mir auch anderes übrig …

/ 2009

Erschienen in:

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Alberndorfer Anthologie Nr. 3


Verlag: Verlag Freya, Linz, 2010
Gattung: Lyrik | Veröffentlichungstyp: Buch

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