Neun
Und so kam jene Zeit des Jahres heran, da sich die Natur allmählich zur inneren Einkehr
zurückzieht; da sie mitsamt ihren bunten Kleidern allen Stolz abwirft, damit dieser
nicht zur Hoffart gerate, jene Zeit also, da das Gras zu wachsen aufhört; da die Wärme
der Kälte, die Üppigkeit der Kahlheit, die Klarheit dem Nebel und das Licht der Finsternis
weichen muß, damit das Sein sich seines Nichtseins besinnen und wieder zu sich selbst zurückzufinden
vermag. Wenn diese Zeit über mich hereinbricht, erfüllt mich stets etwas,
das stiller Ehrfurcht gleicht.
Doch nun, da die Zeit abermals gekommen war, erfüllte mich diese Ehrfurcht nicht.
Eine seltsame Unruhe kam statt dessen über mich. Denn es begab sich, daß die Natur die
innere Einkehr verweigerte.
Die Klarheit wich dem Nebel nicht und das Licht trotzte der Finsternis: die Sonne
saugte gierig den morgendlichen Dunst auf und kostete ihr Strahlen bis zur Neige, indes
der Mond den Nachtnebel bezwang und der Finsternis Herr zu werden trachtete. Die Ãœppigkeit
wich nicht der Kahlheit und die Wärme nicht der Kälte; das Gras hörte nicht auf zu
wachsen, und die Bäume schienen zum immerwährenden Grünen entschlossen; sich ewig
jung wähnend, grünten sie stürmisch und später noch, als ihnen zu grünen erlaubt war;
und da sie endlich nicht mehr grünen konnten, nahmen sie grellbunte Farben an; grell
gelb und grell orange und grell rot; greller als es ihnen zukam; und sie klammerten sich
an die Zweige und weigerten sich abzufallen. Es stand mir nicht zu, über dieses seltsame,
zur Unzeit tolle Treiben der Natur ein Urteil zu fällen, doch ich gestehe, ich konnte nicht
umhin, das Rascheln zu vermissen. Das Rascheln nämlich blieb aus, das kahle Rascheln
der sterbenden Blätter, die von Bäumen fielen, auf Wiesen und gekieselte Wege und
Pflastersteine. Klein und hoch raschelten sie zuerst, dann hell und rollend jung und
schließlich groß und dumpf und hohl, alt und humpelnd. Auch vermißte ich das gefaßte
Rascheln der auf dem Baum zurückgebliebenen Blätter, die spürten, daß nichts sie vor
dem drohenden Zubodenfallen retten konnte.
Der Blutahornbaum über mir klammerte sich an seine Blätter, und die Blätter klammerten
sich an ihn; die Sommerlinde sonnte sich hoffärtig in jugendlichem Gelb; und die
Trauerbirke in ihrem Efeubett vor dem Haus vergaß zu trauern; sie leuchtete grell orange,
fast rot, als wollte sie mit dem Plakat auf der gegenüberliegenden Seite wetteifern, ja
als wollte sie es ihm gleichtun. Ich war versucht zu fluchen.
Auf dem Plakat nämlich leuchtete rot ein hohler Kürbis, lichtdurchflutet; darein war
eine lustige Fratze geschnitten und rund um ihn schwarze Nacht gemalt.
Über dem hohlen Kürbis stand geschrieben:
Gedanken zum Erfolg, Nr. 80
Und neben dem hohlen Kürbis:
DER GEIST DES ERFOLGES IST ÃœBERALL
Der Kürbis war nicht allein. Der Kürbis war allgegenwärtig. Allerorten, in allen Größen
und Formen standen sie, weithin sichtbar in Gärten, auf Zäunen und Mauern, die
Kürbisse, darein lustige Fratzen geschnitten waren und darin nächtens Kerzen brannten,
wie um den unförmigen, ausgehöhlten Leibern Leben einzuhauchen. Die Menschen, welche
vor dem Dichter das Haus bewohnt hatten, pflegten zu dieser Zeit des Jahres zu Ehren
aller Heiligen und aller Seelen zwei Grablichter auf das Tor im Garten zu stellen, welches,
ganz aus der Mitte geraten, von nirgendwoher nirgendwohin führte. Nun jedoch
standen an Stelle der Grablichter zwei Kürbisse, in deren ausgehöhlten Leibern nächtens
Kerzen brannten, und ich muß gestehen, daß ich mich belästigt fühlte; erst um der Kürbisse
willen, welche, lustig gefratzt, allen Heiligen und allen Seelen Hohn lachten, und
dann der Kerzen wegen, welche, mit elektrischem Strom entzündet, mich blendeten und
meine Ruhe störten.
Zwei Stimmen drangen durch das spaltbreit geöffnete Fenster des Schlafgemachs zwei
Stimmen und ein Schein von Kerzenlicht.
Wozu wollt ihr euch denn verkleiden?
Weil es Spaß macht, liebste Huberta! Ich mache eine Halloween-Party, weil es Spaß
macht.
Eben hast du mir doch noch von dem tiefen Sinn erzählt, von dem uralten keltischen
Brauch, vom Geist der Toten, die in ihre Häuser zurückkehren, sagte Helga.
Und sie trat ans Fenster, um es weit zu öffnen.
Ach Huberta. Ich liebe deine Ernsthaftigkeit. Du und dein tiefer Sinn! Ein tiefer Sinn ist
ja recht und schön – aber so tief unten sieht ihn doch keiner!
Mike, der Dichter, hielt inne, denn er hatte einen Einfall. Und dieser Einfall schien ihm
plötzlich viel mehr als einfach ein Einfall zu sein: er leuchtete in seinem Kopf auf wie eine
Erkenntnis, und diese gefiel ihm.
– Den tiefen Sinn an die Oberfläche bringen! –
Die Erkenntnis gefiel ihm, während er sie als solche erkannte, sogar ganz außerordentlich.
Sie erfüllte ihn mit nicht wenig Stolz, und es drängte ihn, sie kundzutun. Seine
Stimme klang ein wenig feierlich, als er sagte:
Den tiefen Sinn an die Oberfläche bringen, das ist unsere Aufgabe. Damit ihn jeder sehen
kann … und jede, fügte er ohne nachzudenken hinzu, indes er einen kleinen Kürbis,
der auf einem Stiel steckte, aus einem Stückchen Papier wickelte, auf welchem ein Kürbis
aufgemalt war. Solcherart entpuppte sich das Papier als der eigentliche Kürbis, während
der vermeintliche Kürbis in Wirklichkeit eine weißliche Zuckerkugel war, die Mike sich in
den Mund steckte. Wohlgefällig lag sein Blick auf Hubertas in die Länge gezogenem, weizengeblondetem
Haar, auf der makellos gebräunten Haut, auf den geschmälten Hüften
und den langgezogenen Beinen.
Huberta.
Sagte Mike, um sie vom Fenster ab und zu sich zu lenken. Gebannt sah er ihre gebläuten
Augen blitzen, Saphiren gleich, über ihren Brüsten von genau mittlerer Größe mit den
himbeerroten Spitzen. Doch da sein Blick über ihre nackten Arme wanderte, blieb er an
den blonden Härchen hängen, welche er dort nie zuvor bemerkt hatte; desgleichen an einer
Haut, welche ihm, was ihn befremdete, mit einem Mal der Haut einer gerupften Gans
zu ähneln schien.
Huberta! So mach doch bitte das Fenster zu! Du frierst ja!
Helga tat, wie ihr geheißen, und zu Mikes Erleichterung sank die Gänsehaut allmählich
in sich zusammen, ohne Spuren zu hinterlassen; die Härchen sträubten sich nicht länger
und legten sich; jedoch waren sie noch immer da! Sie verunzierten ihre makellos glatte
Haut. Und so hieß er seine Phantasie den blonden Härchen Flügel verleihen, so daß sie
mitsamt der Gänsehaut spurenlos verschwinden konnten; und weil er nun einmal gerade
dabei war, den Körper des Mädchens zu vervollkommnen, stutzte er auch noch die Haare,
welche ihre Scham bedeckten, ein klein wenig zurecht, denn sie erschienen ihm ungeordnet,
und hellte sie etwas auf, damit sie vollkommen zum weizengeblondeten Haupthaar
passte.
Wie das Mädchen nun vor ihm stand, in makelloser Schönheit, ergötzte ihr Anblick
ihn über die Maßen, und zum Schöpferstolz gesellte sich der Stolz des Besitzenden. Damit
seine Phantasie ihm keinen Streich spielen und sein vollkommenes Werk zunichte machen
konnte, verbannte er das Licht aus dem Schlafgemach und hieß das Mädchen die
Kerze ausblasen. Der Anblick des makellosen weiblichen Körpers, welcher eine Kerze
ausblies, erregte ihn nicht wenig.
Als jedoch der Körper des Mädchens sich neben ihm auf der Bettstatt niederließ, trat
der volle Mond hinter einer Wolke hervor und schien durchs Fenster und warf sein Licht
auf den Dichter selbst. Kalt und erbarmungslos leuchtete er, durch das dichte Gewebe
von Michaels schwarzem Gewand hindurch, bis in jenen dunkel verborgenen Winkel seines
Herzens, in welchem Furcht, Unsicherheit und Scham schlummerten. Und als der
phantastisch geschönte Körper des Mädchens sich nun dem seinen näherte und sich anschickte,
diesen zu entkleiden, wurde sich dieser ganz plötzlich seiner eigenen Unvollkommenheit
gewahr und sträubte sich, entblößt zu werden. Der Dichter schloß die Augen
und bemühte seine Phantasie, doch fühlte er, wie sie an seinem eigenen Körper jämmerlich
versagte. Ein Gefühl der Ohnmacht stieg in ihm auf und begann sich unerbittlich
auszubreiten; dann wollte das Gefühl gar eine Erkenntnis werden; doch die Erkenntnis
wollte ihm nicht gefallen, und er hieß sie in das Gefühl der Ohnmacht zurücksinken. Dem
Ohnmachtsgefühl jedoch gebot er Einhalt, indem er die Augen öffnete, sich seine Macht
über den Mädchenkörper bewußt machte und seine Ohnmacht damit sorgfältig zudeckte.
Sodann gestattete er dem Mädchenkörper gnädig, Priapus aus der Enge seines Gefängnisses
zu befreien, schloß abermals die Augen und befahl seiner Phantasie, zu dem makellosen,
eine Kerze ausblasenden weiblichen Körper zurückzufliegen: als wäre der Mond
nie hinter seiner Wolke hervorgetreten, so, als wäre nie der Strahl einer Erkenntnis in den
hintersten Winkel seines Herzens gefallen, überließ er sich dem makellosen Mund des
makellosen Mädchenkörpers und ergab sich dem Gefühl der Befriedigung, welches dieser
Mund in seinem Körper hervorzurufen vermochte. Die Leere jedoch, welche er gleich darauf
spürte, füllte er eifrig mit munteren Worten.
Kann doch für eine Schneiderin keine Hexerei sein, ein paar geistvolle Gewänder für
eine Halloween-Party zu nähen!
Nein, sagte Helga, für eine Schneiderin ist das kein Problem.
Ich brauche so deren – na sagen wir: zehn bis fünfzehn.
Helga starrte in die Dunkelheit. In ihren Schläfen pochte es; durch ihren Kopf ratterte
es; es ratterte die betagte Nähmaschine, welche sie von ihrer Großtante Hermine geerbt
hatte und welche der Nähmaschine in des Dichters Schlafgemach aufs Haar glich. Alsbald
jedoch ging das Rattern in das leise Schnurren und Surren des modernen Nähapparates
über, welcher ihrer Freundin Hilde gehörte, die wiederum in der Tat das Handwerk der
Schneiderei erlernt hatte.
Gut, sagte am Ende Helga. Soll ich früher kommen, oder genügt es, wenn ich sie zur
Party mitbringe?
Mitbringe?
Mike starrte in die Dunkelheit. In seinen Schläfen pochte es, denn durch seinen Kopf
dröhnte etwas, das Lachen hätte sein können, doch es war kein Lachen, kein gutes Lachen,
kein Lachen, das aus Lächeln geboren wird; es war Lachen, das die Verachtung gebiert:
Gelächter; erst war es nur Marcs Gelächter, das Gelächter des Artdirektors, und es
weckte in mir die Erinnerung an eine Geiß oder vielmehr einen Geißbock. Doch im Gelächter
des Geißbocks dröhnten alsbald noch andere Gelächter, die Geräusche verschiedener
anderer Tiere in mir wachriefen. – Hu, hu, hu – Huberta –. Das verächtliche Gelächter
färbte Mikes rosige Wangen dunkelrot. – Huberta, ist ja schon originell, aber – Huberta,
die Schneiderin! Unser Mike hat eine Schneiderin namens Huberta, huuu … – Dazu tauchten
in Mikes Kopf die Gesichter auf, aus denen die Gelächter dröhnten, und sie erinnerten
mich ein wenig an die Fratzen, welche man in die Kürbisse geschnitten hatte und mit Hilfe
von elektrisch betriebenen Glühkerzen erleuchtete.
Nein, Huberta, dieses Opfer verlange ich nicht von dir! Es ist schon genug, wenn du
das Nähen der Gewänder auf dich nimmst, du mußt dir nicht auch die Party geben, sagte
Mike mit Festigkeit und mit allem gebotenen Ernst. Vielleicht bringst du sie einfach vorbei,
die Gewänder, wenn du Zeit hast? fügte er rasch hinzu. Der Schlüssel liegt in der Nische
neben der Kellertür.
Helgas Gesicht, vom vollen Mond beschienen, blieb beinahe regungslos, nur ihr Mund
zuckte ein wenig; so, als wollte sie etwas sagen; jedoch – sie sagte nichts.
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