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Michaels Verführung

Roman

Autoren: Sabine M. Gruber
Verlag: Literaturedition Niederösterreich, St. Pölten, 2003
Gattung: Prosa | Veröffentlichungstyp: Buch

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Textproben:

Neun

Und so kam jene Zeit des Jahres heran, da sich die Natur allmählich zur inneren Einkehr zurückzieht; da sie mitsamt ihren bunten Kleidern allen Stolz abwirft, damit dieser nicht zur Hoffart gerate, jene Zeit also, da das Gras zu wachsen aufhört; da die Wärme der Kälte, die Üppigkeit der Kahlheit, die Klarheit dem Nebel und das Licht der Finsternis weichen muß, damit das Sein sich seines Nichtseins besinnen und wieder zu sich selbst zurückzufinden vermag. Wenn diese Zeit über mich hereinbricht, erfüllt mich stets etwas, das stiller Ehrfurcht gleicht. Doch nun, da die Zeit abermals gekommen war, erfüllte mich diese Ehrfurcht nicht. Eine seltsame Unruhe kam statt dessen über mich. Denn es begab sich, daß die Natur die innere Einkehr verweigerte. Die Klarheit wich dem Nebel nicht und das Licht trotzte der Finsternis: die Sonne saugte gierig den morgendlichen Dunst auf und kostete ihr Strahlen bis zur Neige, indes der Mond den Nachtnebel bezwang und der Finsternis Herr zu werden trachtete. Die Üppigkeit wich nicht der Kahlheit und die Wärme nicht der Kälte; das Gras hörte nicht auf zu wachsen, und die Bäume schienen zum immerwährenden Grünen entschlossen; sich ewig jung wähnend, grünten sie stürmisch und später noch, als ihnen zu grünen erlaubt war; und da sie endlich nicht mehr grünen konnten, nahmen sie grellbunte Farben an; grell gelb und grell orange und grell rot; greller als es ihnen zukam; und sie klammerten sich an die Zweige und weigerten sich abzufallen. Es stand mir nicht zu, über dieses seltsame, zur Unzeit tolle Treiben der Natur ein Urteil zu fällen, doch ich gestehe, ich konnte nicht umhin, das Rascheln zu vermissen. Das Rascheln nämlich blieb aus, das kahle Rascheln der sterbenden Blätter, die von Bäumen fielen, auf Wiesen und gekieselte Wege und Pflastersteine. Klein und hoch raschelten sie zuerst, dann hell und rollend jung und schließlich groß und dumpf und hohl, alt und humpelnd. Auch vermißte ich das gefaßte Rascheln der auf dem Baum zurückgebliebenen Blätter, die spürten, daß nichts sie vor dem drohenden Zubodenfallen retten konnte. Der Blutahornbaum über mir klammerte sich an seine Blätter, und die Blätter klammerten sich an ihn; die Sommerlinde sonnte sich hoffärtig in jugendlichem Gelb; und die Trauerbirke in ihrem Efeubett vor dem Haus vergaß zu trauern; sie leuchtete grell orange, fast rot, als wollte sie mit dem Plakat auf der gegenüberliegenden Seite wetteifern, ja als wollte sie es ihm gleichtun. Ich war versucht zu fluchen. Auf dem Plakat nämlich leuchtete rot ein hohler Kürbis, lichtdurchflutet; darein war eine lustige Fratze geschnitten und rund um ihn schwarze Nacht gemalt. Über dem hohlen Kürbis stand geschrieben: Gedanken zum Erfolg, Nr. 80 Und neben dem hohlen Kürbis: DER GEIST DES ERFOLGES IST ÜBERALL Der Kürbis war nicht allein. Der Kürbis war allgegenwärtig. Allerorten, in allen Größen und Formen standen sie, weithin sichtbar in Gärten, auf Zäunen und Mauern, die Kürbisse, darein lustige Fratzen geschnitten waren und darin nächtens Kerzen brannten, wie um den unförmigen, ausgehöhlten Leibern Leben einzuhauchen. Die Menschen, welche vor dem Dichter das Haus bewohnt hatten, pflegten zu dieser Zeit des Jahres zu Ehren aller Heiligen und aller Seelen zwei Grablichter auf das Tor im Garten zu stellen, welches, ganz aus der Mitte geraten, von nirgendwoher nirgendwohin führte. Nun jedoch standen an Stelle der Grablichter zwei Kürbisse, in deren ausgehöhlten Leibern nächtens Kerzen brannten, und ich muß gestehen, daß ich mich belästigt fühlte; erst um der Kürbisse willen, welche, lustig gefratzt, allen Heiligen und allen Seelen Hohn lachten, und dann der Kerzen wegen, welche, mit elektrischem Strom entzündet, mich blendeten und meine Ruhe störten. Zwei Stimmen drangen durch das spaltbreit geöffnete Fenster des Schlafgemachs zwei Stimmen und ein Schein von Kerzenlicht. Wozu wollt ihr euch denn verkleiden? Weil es Spaß macht, liebste Huberta! Ich mache eine Halloween-Party, weil es Spaß macht. Eben hast du mir doch noch von dem tiefen Sinn erzählt, von dem uralten keltischen Brauch, vom Geist der Toten, die in ihre Häuser zurückkehren, sagte Helga. Und sie trat ans Fenster, um es weit zu öffnen. Ach Huberta. Ich liebe deine Ernsthaftigkeit. Du und dein tiefer Sinn! Ein tiefer Sinn ist ja recht und schön – aber so tief unten sieht ihn doch keiner! Mike, der Dichter, hielt inne, denn er hatte einen Einfall. Und dieser Einfall schien ihm plötzlich viel mehr als einfach ein Einfall zu sein: er leuchtete in seinem Kopf auf wie eine Erkenntnis, und diese gefiel ihm. – Den tiefen Sinn an die Oberfläche bringen! – Die Erkenntnis gefiel ihm, während er sie als solche erkannte, sogar ganz außerordentlich. Sie erfüllte ihn mit nicht wenig Stolz, und es drängte ihn, sie kundzutun. Seine Stimme klang ein wenig feierlich, als er sagte: Den tiefen Sinn an die Oberfläche bringen, das ist unsere Aufgabe. Damit ihn jeder sehen kann … und jede, fügte er ohne nachzudenken hinzu, indes er einen kleinen Kürbis, der auf einem Stiel steckte, aus einem Stückchen Papier wickelte, auf welchem ein Kürbis aufgemalt war. Solcherart entpuppte sich das Papier als der eigentliche Kürbis, während der vermeintliche Kürbis in Wirklichkeit eine weißliche Zuckerkugel war, die Mike sich in den Mund steckte. Wohlgefällig lag sein Blick auf Hubertas in die Länge gezogenem, weizengeblondetem Haar, auf der makellos gebräunten Haut, auf den geschmälten Hüften und den langgezogenen Beinen. Huberta. Sagte Mike, um sie vom Fenster ab und zu sich zu lenken. Gebannt sah er ihre gebläuten Augen blitzen, Saphiren gleich, über ihren Brüsten von genau mittlerer Größe mit den himbeerroten Spitzen. Doch da sein Blick über ihre nackten Arme wanderte, blieb er an den blonden Härchen hängen, welche er dort nie zuvor bemerkt hatte; desgleichen an einer Haut, welche ihm, was ihn befremdete, mit einem Mal der Haut einer gerupften Gans zu ähneln schien. Huberta! So mach doch bitte das Fenster zu! Du frierst ja! Helga tat, wie ihr geheißen, und zu Mikes Erleichterung sank die Gänsehaut allmählich in sich zusammen, ohne Spuren zu hinterlassen; die Härchen sträubten sich nicht länger und legten sich; jedoch waren sie noch immer da! Sie verunzierten ihre makellos glatte Haut. Und so hieß er seine Phantasie den blonden Härchen Flügel verleihen, so daß sie mitsamt der Gänsehaut spurenlos verschwinden konnten; und weil er nun einmal gerade dabei war, den Körper des Mädchens zu vervollkommnen, stutzte er auch noch die Haare, welche ihre Scham bedeckten, ein klein wenig zurecht, denn sie erschienen ihm ungeordnet, und hellte sie etwas auf, damit sie vollkommen zum weizengeblondeten Haupthaar passte. Wie das Mädchen nun vor ihm stand, in makelloser Schönheit, ergötzte ihr Anblick ihn über die Maßen, und zum Schöpferstolz gesellte sich der Stolz des Besitzenden. Damit seine Phantasie ihm keinen Streich spielen und sein vollkommenes Werk zunichte machen konnte, verbannte er das Licht aus dem Schlafgemach und hieß das Mädchen die Kerze ausblasen. Der Anblick des makellosen weiblichen Körpers, welcher eine Kerze ausblies, erregte ihn nicht wenig. Als jedoch der Körper des Mädchens sich neben ihm auf der Bettstatt niederließ, trat der volle Mond hinter einer Wolke hervor und schien durchs Fenster und warf sein Licht auf den Dichter selbst. Kalt und erbarmungslos leuchtete er, durch das dichte Gewebe von Michaels schwarzem Gewand hindurch, bis in jenen dunkel verborgenen Winkel seines Herzens, in welchem Furcht, Unsicherheit und Scham schlummerten. Und als der phantastisch geschönte Körper des Mädchens sich nun dem seinen näherte und sich anschickte, diesen zu entkleiden, wurde sich dieser ganz plötzlich seiner eigenen Unvollkommenheit gewahr und sträubte sich, entblößt zu werden. Der Dichter schloß die Augen und bemühte seine Phantasie, doch fühlte er, wie sie an seinem eigenen Körper jämmerlich versagte. Ein Gefühl der Ohnmacht stieg in ihm auf und begann sich unerbittlich auszubreiten; dann wollte das Gefühl gar eine Erkenntnis werden; doch die Erkenntnis wollte ihm nicht gefallen, und er hieß sie in das Gefühl der Ohnmacht zurücksinken. Dem Ohnmachtsgefühl jedoch gebot er Einhalt, indem er die Augen öffnete, sich seine Macht über den Mädchenkörper bewußt machte und seine Ohnmacht damit sorgfältig zudeckte. Sodann gestattete er dem Mädchenkörper gnädig, Priapus aus der Enge seines Gefängnisses zu befreien, schloß abermals die Augen und befahl seiner Phantasie, zu dem makellosen, eine Kerze ausblasenden weiblichen Körper zurückzufliegen: als wäre der Mond nie hinter seiner Wolke hervorgetreten, so, als wäre nie der Strahl einer Erkenntnis in den hintersten Winkel seines Herzens gefallen, überließ er sich dem makellosen Mund des makellosen Mädchenkörpers und ergab sich dem Gefühl der Befriedigung, welches dieser Mund in seinem Körper hervorzurufen vermochte. Die Leere jedoch, welche er gleich darauf spürte, füllte er eifrig mit munteren Worten. Kann doch für eine Schneiderin keine Hexerei sein, ein paar geistvolle Gewänder für eine Halloween-Party zu nähen! Nein, sagte Helga, für eine Schneiderin ist das kein Problem. Ich brauche so deren – na sagen wir: zehn bis fünfzehn. Helga starrte in die Dunkelheit. In ihren Schläfen pochte es; durch ihren Kopf ratterte es; es ratterte die betagte Nähmaschine, welche sie von ihrer Großtante Hermine geerbt hatte und welche der Nähmaschine in des Dichters Schlafgemach aufs Haar glich. Alsbald jedoch ging das Rattern in das leise Schnurren und Surren des modernen Nähapparates über, welcher ihrer Freundin Hilde gehörte, die wiederum in der Tat das Handwerk der Schneiderei erlernt hatte. Gut, sagte am Ende Helga. Soll ich früher kommen, oder genügt es, wenn ich sie zur Party mitbringe? Mitbringe? Mike starrte in die Dunkelheit. In seinen Schläfen pochte es, denn durch seinen Kopf dröhnte etwas, das Lachen hätte sein können, doch es war kein Lachen, kein gutes Lachen, kein Lachen, das aus Lächeln geboren wird; es war Lachen, das die Verachtung gebiert: Gelächter; erst war es nur Marcs Gelächter, das Gelächter des Artdirektors, und es weckte in mir die Erinnerung an eine Geiß oder vielmehr einen Geißbock. Doch im Gelächter des Geißbocks dröhnten alsbald noch andere Gelächter, die Geräusche verschiedener anderer Tiere in mir wachriefen. – Hu, hu, hu – Huberta –. Das verächtliche Gelächter färbte Mikes rosige Wangen dunkelrot. – Huberta, ist ja schon originell, aber – Huberta, die Schneiderin! Unser Mike hat eine Schneiderin namens Huberta, huuu … – Dazu tauchten in Mikes Kopf die Gesichter auf, aus denen die Gelächter dröhnten, und sie erinnerten mich ein wenig an die Fratzen, welche man in die Kürbisse geschnitten hatte und mit Hilfe von elektrisch betriebenen Glühkerzen erleuchtete. Nein, Huberta, dieses Opfer verlange ich nicht von dir! Es ist schon genug, wenn du das Nähen der Gewänder auf dich nimmst, du mußt dir nicht auch die Party geben, sagte Mike mit Festigkeit und mit allem gebotenen Ernst. Vielleicht bringst du sie einfach vorbei, die Gewänder, wenn du Zeit hast? fügte er rasch hinzu. Der Schlüssel liegt in der Nische neben der Kellertür. Helgas Gesicht, vom vollen Mond beschienen, blieb beinahe regungslos, nur ihr Mund zuckte ein wenig; so, als wollte sie etwas sagen; jedoch – sie sagte nichts.

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