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Kurzparkzone

Erzählungen

Autoren: Sabine M. Gruber
Verlag: Picus Verlag, Wien, 2010
Gattung: Prosa | Veröffentlichungstyp: Buch

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Textproben:

(12 Uhr 30 bis 14 Uhr)

Nina

Noch nie war es um diese Zeit so heiß! Wer aber kann sich wirklich erinnern, wie heiß es war, in den letzten Jahren, genau um diese Zeit, und was bedeutet denn überhaupt: um diese Zeit. Ist Pfingsten gemeint, das Fest, das bewegliche, oder das Datum, es könnte noch Mai gewesen sein oder längst schon Juni. Pfingsten ist gerade vorbei und längst ist es Juni. Sie spürt ihre Stirn feucht werden und in ihren Achselhöhlen Perlen von kaltem Schweiß, die abwärts laufen, stockend, unschlüssig über die Richtung ihres Laufs; wie Tränen, an verborgener Stelle geweint. Die Mutter, auf dem Beifahrersitz neben der Tochter, sitzt gebeugt und kerzengerade zugleich; sie zerknüllt, zerpresst, zermalmt ein Papiertaschentuch, einmal in der rechten, einmal in der linken Hand und wieder in der rechten. Die Tochter macht nur wenige Pausen, während sie redet, sachlich, ruhig, fest, in einem fort redet, wie um sich selbst zu beruhigen, und weil es nichts anderes zu tun gibt, außer das Fahrzeug lenken, auf den Verkehr achten, auf die Geschwindigkeit, bei Rot auf die Bremse steigen, anhalten, bei Grün aufs Gaspedal steigen, losfahren. Das Haar der Mutter, kurz, weiß, dauergewellt, klebt dunkel am Kopf, anstatt locker das Gesicht zu umrahmen: blass glänzend, zerfurcht, mit roten Äderchen, die auf den Wangen zu platzen drohen, unter blauen Augen, schon ein wenig gelb von Alter, tränenlos wässrig. Über etwas ohne Pause reden, um es nur nicht zu denken, Möglichkeiten besprechen, die zu denken unmöglich ist, Gefühle ausschalten durch Aussprechen und immer wieder Aussprechen der Möglichkeiten, nicht mehr als zwei. Der Anruf ereilte die Tochter am Vormittag, um zehn Uhr achtundzwanzig. Sie stand neben dem verblühenden Jasminstrauch, der in der Junihitze süßlich duftete und hatte einen Specht im Blickfeld, der in einen hohlen Baumstamm hackte. Während die Anruferin teilnahmslos und unbeteiligt ihre Mitteilung machte und, ehe sie auflegte, sagte, sie möge es der Mutter ausrichten, heftete die Angerufene ihren Blick auf den Specht, und sein Hacken wurde langsamer, bis es erstarrte, oder erstarrte ihr Blick, oder sie selbst, oder hörte ihr Herz auf zu hämmern, während sie sekundenlang dem Denkunmöglichen ausgeliefert war, ungewappnet, denn was hätte sie vor diesem Anruf wappnen sollen. Dann hackte der Specht weiter, oder war es ihr Herz, das wieder hämmerte. Sie ging ins Haus, um die Mutter zu suchen. Die Mutter stand im Badezimmer und cremte sich das Gesicht ein. Die Tochter sah die Mutter an, die noch weiße Spuren von Hautcreme im Gesicht hatte, und begann zu reden und hörte nicht mehr auf zu reden, um das Denkunmögliche und einzig Denkbare nicht mehr denken zu müssen. Die Mutter, während sie die Tochter reden hörte, erstarrte. Hier ist eine Kurzparkzone, sagt die Tochter, als sie sich nähern, und fährt rückwärts in eine Parklücke, hier war immer schon eine Kurzparkzone, und die Frage ist, wie lange wir brauchen werden und wie viele Parkscheine ich ausfüllen soll, also ich möchte nicht einen Strafzettel bekommen und einundzwanzig Euro zahlen, besser mehr als weniger, ich fülle jetzt einmal eineinhalb Stunden aus, egal, wie lange es dauern wird. Normalerweise redet sie, um zu wissen, was sie denkt, nun redet sie, um es nicht zu wissen, und die Gedanken kommen tatsächlich nicht. Noch nicht. Denn ihr Kopf ist zum Bersten angefüllt mit erstarrten Gedanken, die sich womöglich in Bewegung setzen werden, sobald sie zu reden aufhört. Ein guter Parkplatz, wir haben Glück, man findet hier um diese Zeit nur schwer Parkplätze, vielleicht hätten wir doch noch einmal die Hausmeisterin anrufen sollen, aber wahrscheinlich weiß die ja auch nicht mehr als wir, wir gehen auf jeden Fall hinein, wir müssen hineingehen. Ja, sagt die Mutter, wir gehen hinein. Und ich bewundere dich, wie du einparkst, mitten in der Stadt, ich könnte das nicht, ich könnte überhaupt nicht in der Stadt fahren, soviel könntest du mir gar nicht zahlen, dass ich das machen würde. In der Mittagshitze des fortgeschrittenen Juni fühlt die Tochter keine Angst, nein, doch sie friert; ein Frieren tritt an die Stelle der Angst, die sie nicht fühlt, ein Frieren wie bei sehr großer körperlicher Anstrengung. Die Mutter hingegen versteckt die Angst in ihren Bewegungen, wie eine Puppe bewegt sie sich, eine Puppe, die, soeben zum Leben erweckt, keine Übung hat im Lebendigsein; mechanisch macht die Mutter, die ein geblümtes Sommerkleid mit Bindegürtel trägt, das an ihrem Körper klebt, einen Schritt nach dem anderen, am Arm der Tochter, die weiter und immer weiter redet, bis sie die Hauseingangstür des Siebzigerjahrebaus erreichen, Stiege II, die Glastür mit dem Metallrahmen. Die Mutter probiert einen Schlüssel ihres Schlüsselbundes. Er passt, doch er sperrt nicht. Sie wischt sich den Schweiß von der Stirn. Ein Mann, der wirkt, als wäre er drogenkrank, drückt auf einen Klingelknopf, der Türöffner surrt, der Mann schubst die Frauen zur Seite und zieht die schwere Tür auf. Die Tochter nimmt schnell den Arm der Mutter und tritt mit ihr in den Hauseingang. Die Tür zum Mülltonnenraum steht weit offen. Geruch nach Fäulnis und scharfem Reinigungsmittel schlägt ihnen entgegen. Die schmalen metallenen Briefkästen der Hausparteien stehen offen, aufgebrochen. Wollen wir mit dem Lift fahren, fragt die Tochter, und die Mutter nickt, und sie betreten den Lift, um ein Stockwerk höher zu fahren; sie fahren dieses eine Stockwerk, weil sie, wenn sie aus dem Lift steigen, zwei Schritte neben der Wohnungstür stehen werden, die Treppe hingegen, die Treppe mündet unausweichlich in diese Tür. Als der Anruf sie neben dem duftenden Jasminstrauch ereilte und die teilnahmslose Anruferin ihr unbeteiligt mitteilte, die Hausmeisterin habe sich bei ihr gemeldet, weil Hausbewohner sich über einen merkwürdigen Geruch im Stiegenhaus beklagt hätten, spülte die Erinnerung einen Anruf in ihr hoch, einen Anruf, den sie vier Tage zuvor entgegengenommen hatte; es war ein Anruf ohne Anrufer gewesen, ein stummer, stimmloser Anruf, der sie, zusammen mit dem merkwürdigen Geruch im Stiegenhaus, Sekundenbruchteile lang dem Denkunmöglichen auslieferte. Dass es nur genau diese zwei Möglichkeiten gab, die auch die Mutter Sekundenbruchteile lang dachte, ehe sie erstarrte, weil sie gerade ihr Gesicht eincremte und sich nicht wappnen konnte. Merkwürdiger Geruch, was konnte das schon bedeuten, dachten sie beide und sahen sich an und eine von ihnen sagte es laut. Entweder werden wir eine Leiche finden, dachten sie beide, oder zwei Leichen, und die andere von ihnen sprach es aus. Ich kann nicht hineingehen, sagt die Tochter, als sich die Lifttür hinter ihnen schließt. Ich kann es auch nicht, sagt die Mutter. Schweißgebadet frierend stehen sie da. Die Tochter läutet an der einen Nachbarstür. Stimmen, Schritte. Stille. Niemand öffnet. Sie läutet an der anderen Nachbarstür, Dr. S, praktischer Arzt. Ein surrender Türöffner lässt sie ein. Die Tochter klopft an die Tür mit der Aufschrift „Sprechzimmer“. He, Sie da, nicht vordrängen! Es ist aber ein Notfall. Ich bin auch ein Notfall!, sagt der Mann, der wirkt als wäre er drogenkrank. Sehen Sie nicht, meine Mutter ist am Zusammenbrechen. Das ist mir herzallerliebst egal! Wir haben aber nur eine kurze Frage. Jaja, und ich brauch' auch nur ein Rezept! Die Tür zum Sprechzimmer geht auf, eine alte Frau kommt heraus, die Tochter schiebt die Mutter hinein. Ein riesiger Schreibtisch, darauf ein leerer Rezeptblock, dahinter ein Mann unbestimmten Alters, das Gesicht rot, aufgedunsen, Dr. S. Können Sie uns bitte sagen, was nebenan passiert ist, ich bin die Schwester, und das ist meine Mutter. Dr. S. bietet keinen Platz an und kein Glas Wasser und er hat auch nichts gehört und gesehen und weiß auch nichts, der Verstorbene habe sich nur hin und wieder ein Rezept bei ihm geholt, sagt Dr. S. unbewegt, sonst habe er ja gar keinen Kontakt zu ihm gehabt, außer vielleicht im Stiegenhaus, ab und zu. Und seine Frau, ist die auch – Nein, die ist seit langem verreist, sagt Dr. S., der nichts gehört und gesehen hat und nichts weiß, in ihre Heimat, Persien, die Frau schreit ohnehin immer nur herum, spielsüchtig ist sie auch. Besser, Sie gehen da jetzt nicht hinein, das ist kein schöner Anblick, so eine Leiche, vermutlich fortgeschrittener Verwesungszustand, die tagelange Hitze, wissen Sie, noch nie war es um diese Zeit so heiß. Vielleicht war die Feuerwehr schon da, vielleicht auch nicht. Könnten Sie, könnte ich, sagt die Mutter. Am besten, Sie besorgen sich irgendwo etwas zu trinken und ein Beruhigungsmittel, unterbricht Dr. S. die Frau, an der ein geblümtes Kleid klebt und in deren Kopf sich das, was bis zu diesem Augenblick trotz allem eine Möglichkeit gewesen ist, zu einer Gewissheit formen muss. Mein Warteraum ist voll, wissen Sie, ich weiß nichts, vielleicht weiß die Polizei etwas. Er nennt die Adresse, ein paar Gassen weiter, und komplementiert sie hinaus, mit einer müden Handbewegung. Der Drogenkranke drängt ins Sprechzimmer. Der Warteraum ist leer. Hinter den beiden Frauen fällt die Ordinationstür ins Schloss. Sie machen zwei Schritte und stehen vor der Tür der Wohnung, hinter der ein lebloser Körper liegt oder nicht mehr liegt, der ein Bruder, ein Sohn gewesen ist, so lange, bis Dr. S. der Verstorbene gesagt hat. Was machen wir jetzt, sagt die Tochter und hört auf zu reden, und augenblicklich setzen sich die erstarrten Gedanken in Bewegung. Auf dem Türschild bleiben sie hängen. Diplomingenieur. Wir müssen seinen Titel auf die Parte schreiben, denkt sie, er wollte dazugehören, bis zuletzt wollte er dazugehören. Die Mutter bewegt sich mechanisch, stockend, unschlüssig wie die kalten Schweißperlen in den Achselhöhlen der Tochter. Was machen wir jetzt, sagt sie. Jetzt gehen wir zur Polizei, sagt die Tochter, wir gehen jetzt zur Polizei, und dann sehen wir weiter. Was würde ich ohne dich nur tun, ich würde das nicht durchstehen, ich weiß nicht, wie ich das durchstehe. Die Tochter legt den Arm um die Mutter. Wieder schwemmt ihre Erinnerung einen Anruf ins Bewusstsein, gnadenlos. Hier spricht dein Bruder!, sagte der Anrufer, und weil sie im Klang seiner Stimme, im unnatürlich gehoben gespannten Tonfall seinen manischen Zustand hörte oder Drogen oder beides, verspürte sie augenblicklich den Drang, sich die Ohren zu verschließen. Nichts hören, nichts sehen, nichts zu wissen, nie etwas gewusst haben. Ein Sträuben war in ihr, beklommen und gereizt, mitleidig und unwillig, ohnmächtig. Heute ist der sechzehnte März! Ich weiß, sagte die Schwester. Heute feiere ich meinen fünfzigsten Geburtstag!, sagte er, und es zerriss ihr beinahe das Herz. Ich weiß, sagte sie. Kannst du mir Geld geben, zum Geburtstagfeiern!, fragte der Bruder. Ich hab dir eine Geburtstagskarte geschickt, sagte die Schwester. Und dreißig Euro, fügte sie hinzu und schämte sich und rechtfertigte sich, dass man Menschen wie ihm nicht zu viel auf einmal geben durfte, das sagen alle: Man darf so jemandem nicht zu viel Geld auf einmal geben, das schadet ihm nur. Dreißig Euro!, rief der Bruder aus. So viel ist dir dein Bruder wert! Ist deine Frühpensionierung bewilligt worden, fragte die Schwester. Ja!, sagte der Bruder, der arbeitslose verkrachte Spätakademiker ist frühpensioniert! Und wo ist überhaupt deine Frau, fragte die Schwester. Verreist!, sagte der Bruder, ich habe da eine kleine Feier! Willst du nicht kommen und mit deinem Bruder seinen fünfzigsten Geburtstag feiern! Das Geld kommt bestimmt morgen, sagte die Schwester. Der Beamte auf dem Polizeiposten zeigt Mitgefühl. Er reicht der Mutter ein Glas Wasser und bietet ihr einen Stuhl an und räuspert sich. Danke schön, sagt sie und setzt sich und sinkt in sich zusammen. Der Beamte hat den Fall noch nicht auf dem Tisch, doch der Bericht ist unterwegs. Warten Sie bitte, sagt er zu der Tochter, die sich neben die Mutter setzt und den Arm um sie legt. Sie warten. Sie frieren. Sie schweigen. Der Beamte winkt die Tochter zu sich. Ich mache das, sagt die Tochter, als die Mutter aufstehen will. Die Tochter antwortet auf Fragen. Der Beamte nimmt Daten auf. Wie ist er denn – und wann – hat man ihn schon – . Sensengasse, sagt der Beamte und sieht sie nicht an, die Leiche ist in die Sensengasse gebracht worden zur Obduktion. Wir gehen von Selbstmord aus, vor drei bis vier Tagen etwa, der tatsächliche Todeszeitpunkt ist nicht mehr feststellbar, die Verwesung ist zu weit fortgeschritten. Als Todeszeitpunkt, fügt der Beamte hinzu und räuspert sich noch einmal, gilt in solchen Fällen der Zeitpunkt der Auffindung. Die Tochter versucht zu denken. Sensengasse. Leiche. Obduktion. Sie kann keine Verbindung herstellen, zwischen dem Wort Leiche und ihrem Bruder. Vor etwa drei Tagen… Ein Bild breitet sich in ihr aus, unerbittlich, bis es sie restlos ausfüllt, das Bild eines Mannes, etwa 50, gleich hinter einer Wohnungstür, auf der ein Schild prangt „Diplomingenieur“; der Mann kauert auf dem Boden neben dem Telephonkästchen und wählt eine Nummer und kann nicht mehr sprechen oder will es nicht mehr und die Leitung bleibt tot. Todeszeitpunkt. Von dem, was der Beamte gesagt hat, ist nichts zur Mutter vorgedrungen. Zusammengesunken sitzt sie immer noch auf dem Stuhl. In ihrem Kopf ist ein Tosen, ein gnädig gedankenleeres Tosen, das die Wahrnehmung vorübergehend lähmt. Fahren Sie jetzt nach Hause, Sie können nichts tun. Ach, hier habe ich noch einen Zettel für Sie, scheint ein Abschiedsbrief zu sein. Die Tochter steckt den Zettel ein und nimmt die Mutter am Arm und verlässt mit ihr den Polizeiposten und möchte wieder reden, um nicht an die anderen Anrufe denken zu müssen, doch sie kann nicht mehr reden. Kurz nach dem fünfzigsten Geburtstag des Bruders dachte sie: Morgen rufe ich ihn an, ich lade ihn ein. Am übernächsten Tag hatte sie ihn nicht angerufen und nicht eingeladen. Morgen, dachte sie, ein paar Tage später, oder waren es Wochen, morgen rufe ich an und besuche ihn. Und wieder ein anderes Mal dachte sie: Gleich morgen rufe ich an und treffe mich mit ihn. Am Pfingstsamstag schließlich, als der Anruf kam, totenstill, da dachte sie an den Bruder und rief ihn nicht an und dachte nicht mehr: Morgen rufe ich ihn an. Wie immer, wenn er aus überweiten, überhellen Höhen in die Wirklichkeit gestürzt war, gefangen hinter unaufschließbaren Türen, hatte er gebeten, in Ruhe gelassen zu werden. Sie hielt sich daran, dieses Mal, und dieses eine Mal hielten sich alle daran, mit einer Art von Erleichterung, die beklommen war, bleischwer, unruhvoll. Die beiden Frauen gehen die Straße hinunter in Richtung Auto. Die Sonne brennt von einem wolkenlos blauen Himmel. Wir müssen uns jetzt irgendwohin setzen, sagt die Tochter, bevor sie beim Auto angelangt sind, und etwas trinken. Ja, sagt die Mutter. Sie betreten einen Eis-Salon, setzen sich in einen schattigen Innenhof. Sie bestellen Mineralwasser. Die Tochter nimmt den Zettel aus der Tasche. Steil aufgerichtet stehen schwarze Buchstaben auf dem Papier, die verzweifelt Würde wahren möchten und Größe zeigen; kindlich rund und niedergedrückt, unruhig und mühsam beherrscht richten sie sich an die Frau, die geliebte, die hoffnungslos verreist ist, seit langem. Ich habe dich mit meinem ganzen Herzen geliebt. Jetzt möchte ich niemandem mehr zur Last fallen. Auf der Rückseite des Zettels ein Auflisten von Habseligkeiten, was damit geschehen soll, Gedankenfetzen. Von Zeile zu Zeile zerbrechen die Buchstaben, zerlösen sich, zerfällt die Schrift, ersterbend, sterbend. Keine Unterschrift. Selbstauslöschung. Was, fragt die Mutter nach einer ganzen Weile, was steht in dem Abschiedsbrief. Die Haare kleben an ihrem Kopf und das geblümte Kleid an ihrem Körper. Schau, sagt die Tochter, frierend, bis zuletzt hat er an dich gedacht. Hier unten, ganz links, da steht: Mutti, Danke für alles. Aus wässrig blauen Augen laufen lautlos Tränen. Die Tochter legt den Arm um die Mutter. Zahlen, sagt sie, nach einer Weile und hilft der Mutter aufzustehen. Als sie sich dem Auto nähern, sieht sie von weitem schon den Strafzettel, zwischen Windschutzscheibe und Scheibenwischer eingeklemmt. Sie öffnet der Mutter die Autotür, unerträgliche Hitze schlägt ihnen entgegen. Sie nimmt den Strafzettel, steigt ein und kurbelt die Fenster herunter. Sie startet den Motor und fährt aus der Parklücke. Sie müssen um den Häuserblock, vorbei an der Wohnung, die sie nicht betreten haben. Eine Ampel, noch eine Ampel. Die Tochter sieht kurz nach oben. Ein Windstoß weht den Geruch von Verwesung aus den weit offenen Fenstern der Wohnung ins offene Fenster des Autos. Aus den blauen Augen der Mutter laufen noch immer Tränen, lautlos. Die Tochter der Mutter und Schwester des Bruders wird erst später weinen; sehr viel später erst, in einem Konzertsaal; im Stück Nummer vierzehn eines selten aufgeführten barocken Werkes wird es sie treffen, unvorbereitet; sie wird keine Möglichkeit haben sich zu wehren, nicht gegen die Musik und nicht gegen die Worte; Tränen werden fließen, endlich, unverborgen. Darius great and good/ By too severe a fate/ fall'n from his high estate/ and welt'ring in his blood/ on the bare earth expos'd he lies/ with not a friend to close his eyes. Im abschließenden Polizeibericht wird stehen: Die Wohnung befand sich in einem sorgfältig aufgeräumten, äußerst sauberen Zustand. Mülleimer entleert, Geschirr abgewaschen. Dokumente und Papiere geordnet auf dem Küchentisch, daneben ein Abschiedsbrief. Keine Anzeichen von Gewaltanwendung. Blutspuren im Badezimmer, im Eingangsbereich neben dem Telephonkästchen, sowie in der Küche, wo vermutlich der Abschiedsbrief geschrieben wurde. Weiters im Schlafzimmer. Hier wurde die männliche Leiche aufgefunden, zusammengekauert auf dem Holzfußboden, unbekleidet, neben dem sorgfältig gemachten Bett. Die genaue Todesursache konnte nicht festgestellt werden, da der Verwesungszustand bereits stark fortgeschritten war, wegen der für diese Jahreszeit ungewöhnlich großen und tagelang anhaltenden Hitze.

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