Ich kann nichts! Sagt Carmen. Gar nichts. Nur fressen. Frust essen. Hat der Lehrer gesagt. Der Knollmann, der Knallkopf. Gell, Carmen, du bist eine Frustesserin!
Da hab ich geglaubt, Frust ist eine Steigerungsstufe von fressen. Fressen, frust, gefressen. Ich hab’s aber nur bis zum Test geglaubt, sagt Carmen und lacht. Und kratzt an der Haut um die Fingernägel, bis sie blutet. Und hört nicht auf damit. Und macht das immer wieder.
Carmelita, komm zu Papa, sagte der Spanier. Carmelita, tanz mit mir!
Da war sie vier und da jagten sie um den Christbaum, bis er umstürzte und die Glaskugeln in die Gegend spritzten und mit ihnen die Kerzen und alles Engelsgewirk und Steffi Blöder Spanier schrie.
Dabei war der Spanier gar kein Spanier, aber er kam daher wie einer, wie ein Stierkämpfer, ein stolzer Matador, färbte sich die Haare schwarz und kämmte sich schmalzige Pomade ein. Aber seine Augen hatten ein blasses Grau und das ließ sich nicht verfärben und das verriet ihn jedes Mal, wenn er sich an eine heran machte.
Er versuchte oft, sich an eine heran zu machen, manchmal gelang es, manchmal nicht. Oft lachten sie ihn aus, weil seine Augen dieses ganz blasse Grau hatten und unter dem blendenden Pomadenschwarz der Haare fast verschwanden. Sie lachten ihn aus, weil er nach Verlieren roch und nach Heimweh und weil ihm all das zum grünen Gesicht stand. Dann trank er Schnaps und lallte viel und viel Unsinn und wankte heim und stank nach Schnaps und Steffi schrie Zeter und Mordio und schlug wild auf ihn ein und er schnappte sie bei den Handgelenken, dass man am nächsten Tag noch rote Spuren sah.
Dann drängte er sie ins Schlafzimmer und schmiss hinter sich die Tür zu und draußen stand Carmelita, die eigentlich Carmen hieß und auch schrie, denn was konnte man tun, als schreien, wenn alle schrien?
Carmelita, sagte der Spanier, der eigentlich Johann hieß, schmeichelnd, Carmelita, meine Süße, sagte er, wenn er aus dem Zimmer kam, immer noch stinkend und wankend, du wenigstens hast mich lieb?
Carmelita nickte und fand ihn schön, wenn sein grünes Gesicht auf sie herab leuchtete und seine Hand ihre Angst vor der verschlossenen Tür fort strich.
Carmelita nickte und fand ihn schön, wenn sein Haar zaubrisch glänzte und der matte Morgenschein ihn anmutig machte und biegsam wie einen silbrigen Fisch im Mond.
Ich fand ihn schön, sagt Carmen, ich fand meinen Vater schön, wenn er heimkam, nachts, und sich über mich beugte und mich ankicherte mit Grün im Gesicht und schillrigen Augen. Wie ein Fisch, ein silbriger Fisch im Mond, sagt Carmen, und wir lachten uns an, der Fisch und ich und machten uns bereit für unseren Gang hinauf in die siebenundneunzigste Galaxie.
Aber dann, sagt Carmen, kam meine Mutter und kreischte, dass man dreizehn Wirtshäuser aus ihm herausriechen könne, dreizehn mindestens und was das noch werde. Dabei schlug sie nach ihm und er suchte Schutz hinter mir und sie traf mich. Da begann sie zu lachen und strich mir übers Gesicht und sagte: Was stehst du denn immer im Weg, du Dumme, meine Dumme, musst nicht weinen, hab ja nicht dich gemeint.
Irgendwann strichen sie mir beide über Kopf und Gesicht und irgendwann berührten sich ihre Finger und verschränkten sich ineinander und bald vergaßen sie mich und sie strich ihm über Kopf und Gesicht und er ihr und dann, sagt Carmen, verschwanden sie ins Schlafzimmer und wie er das, was er dann fertig brachte, fertig brachte mit den dreizehn Wirtshäusern in sich, das weiß ich heute noch nicht.
Textprobe "In meinem Spanienland" / 2010