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Je mehr Lebenszeit einen Menschen mit einer Stadt verband, desto vielfältiger wurden ihre Schichten, unsichtbar für andere und doch stets gegenwärtig. Wie die Jahresringe eines Baumes lagerten sie sich im Bewußtsein ab, manche heller und andere dunkler, durchlebtes Unglück war vielleicht nur erahnbar in einer Unregelmäßigkeit, die von einer tiefen Narbe herührte. Und alle Erfahrungen und Erinnerungen zusammen schufen in Menschen wie Mira und Spitzer wohl jene starke Zugehörigkeit, dachte Max, die sich auf keinen anderen Ort übertragen ließ. Wenn er mit Spitzer unterwegs war, erschien es ihm , als reagierte er auf jede Straße, auf jede Gegend anders. Manchmal zwang Spitzer ihnen einen Umweg auf, oder er wurde schweigsam, als sei er an einer bestimmten Stelle auf einen Mechanismus getreten, der ihn an einen anderen Punkt seiner Erinnerung versetzte.
Auf seinen Wanderungen durch die Stadt entdeckte Max im ältesten Stadtteil einen Laubengang, so schmal, daß man ihn mit ausgebreiteten Armen vermessen konnte. Im Schlußstein eines Fundaments glaubte er eingemeißelte Schriftzeichen zu entdecken, unleserlich, er fuhr sie mit dem Finger nach, von rechts nach links: Konnte es ein gestohlener Grabstein aus einem geschleiften jüdischen Friedhof sein? Man mußte Spitzer fragen.
/ 2000