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Einmündung

Roman

Autoren: Judith Gruber-Rizy
Verlag: Kitab Verlag, Klagenfurt-Wien, 2008
Gattung: Prosa | Veröffentlichungstyp: Buch

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Textproben:

Die Wahrheit ist, dass Rosa immer gerne reiste. Nicht nur an den Amazonas, sondern auch in die Sahara und zum Himalaja, zeitweise sogar in die Antarktis. Kaum kehrte Rosa von einer großen Reise heim, plante sie schon die nächste und wurde unruhig, wenn sich ihr Aufenthalt zu Hause aus irgendwelchen Gründen hinzog. Manchmal reiste Rosa mit einem Freund, seltener auch mit einer Freundin, später reiste Rosa fast immer alleine. ... „Immer reist du“, sagte ein Freund, der nicht mit Rosa reiste, sondern zu dem Rosa reiste. Aber er fragte nicht, warum Rosa immer reist. Niemand fragte Rosa bisher, warum sie reist, auch nicht die Mutter. Am allerwenigsten fragt sich Rosa selbst. Nur ein einziges Mal fragte sich Rosa für einen ganz kurzen, kritischen Moment, warum sie reisen muss, nicht warum sie reist, sondern warum sie es muss. Doch Rosa beantwortete die Frage damit, dass sie sich sagte, sie müsse nicht reisen, sie wolle reisen, es mache ihr Spaß und bereite ihr Freude. Irgendwann aber, wahrscheinlich erst nach dem Tod der Mutter, begannen sich Rosas Reisen zu verändern. Langsam ging dieser Prozess vor sich, schrittweise nur veränderte Rosa ihre Reiseziele und ihre Reiseart, reiste nur mehr alleine, um ohne Einfluss eines anderen Menschen ihren ureigensten Reisegenuss herausfinden zu können. Und erahnte dann eines Tages am verschilften Ufer eines kleinen, unbekannten Sees in einer unspektakulären und weitgehend unbekannten und ungerühmten Landschaft, was sie auf ihren Reisen finden wollte. Nur eine Ahnung war es, noch kein Wissen, mehr ein Spüren, dass da etwas anders war an diesem Schilfufer. Stundenlang saß Rosa allein am Ufer, tagelang, wochenlang, saß immer am selben Platz, tat nichts außer schauen und spüren, sah das Schilf, die Oberfläche des Sees, sah am gegenüberliegenden, nahen Ufer die Bäume, manchmal ein paar Wasservögel auf dem See, sah den Himmel, sah, roch, spürte und wusste irgendwann einmal, nach vielen Wochen, dass die Extreme sie nicht mehr wirklich locken konnten. ... Im allerersten Morgengrauen sitzt der Saxophonspieler ganz hinten in Rosas Plätte und spielt Altsaxophon, während Rosa zügig über den See rudert. Den Berg hinauf trägt er das Saxophon auf dem Rücken. Rosa führt ihn über den steileren Anstieg vorne auf der Seeseite, damit er den unvergleichlichen Blick hinab aufs tiefgrüne Wasser genießen kann. Doch der Saxophonspieler kann den Ausblick auf den See nicht genießen, will überhaupt nicht hinab schauen, schaut lieber hin zum Fels und hält sich fest, wo immer es nur geht, in seinem Gesicht zeichnet sich Furcht ab unter den Schweißtropfen, er keucht nicht nur vor Anstrengung, sondern auch vor Anspannung. Auf dem Gipfel lässt sich der Saxophonist auf einem Felsen nieder, spielt, während er hinausschaut aufs Hügelland, zurückschaut zu den hohen Bergen, manchmal auch hinab schaut auf den See, und Rosa steht neben ihm und spürt, wie die ganze, große Weite in ihr aufgeht, sie von unten her anfüllt, überströmt, aus ihr herausquillt, sie umhüllt wie feiner Nebel, zartrotgolden getönt. Natürlich musste Rosas Mutter von hier weg, wer diese Weite in sich hat und deutlich spürt, den treibt es fort von hier, aus der Enge hinaus, immer weiter, irgendwohin ans Meer, so wie Rosa fortgetrieben wurde, wenngleich auch nicht von der Weite in sich, sondern von der Suche nach Weite. Aber wie weit es um Rosa herum auch wurde, in sich fühlte Rosa die Enge, erst hier, auf diesem Berg, erfasst die Weite auch Rosa, erfasst das Innere von Rosa. Und der Saxophonist spielt vor sich hin, spielt auch Weite, aber eine andere Weite, nicht die von Rosa, und wären da nicht seine freundlichen, fröhlichen, sehr offenen Augen, würde Rosa ihn vielleicht einfach hier sitzen lassen und rasch hinab laufen zum See, um erfahren zu können, ob die riesige Weite in Rosa bleibt. Die Großmutter konnte Rosa erspüren, mit dem Großmutter-Schatten neben sich konnte Rosa der Großmutter selbst in deren Jugend nahe sein. Der Mutter nähert sich Rosa immer noch vorwiegend im Kopf, nur hier heroben auf dem Berg kann Rosa die Weite als die der Mutter und gleichzeitig als eigene Weite empfinden. ... Das Haus am Rande des Ortskerns, zu dem der Saxophonist Rosa führt, ist alt und riesengroß und hat früher einer Gräfin gehört. Das weiß Rosa aus den Erzählungen der Mutter, denn die Mutter hat in ihrer Jugend einige Zeit lang bei dieser Gräfin in diesem Haus gearbeitet. Er habe das Haus geerbt, erzählt der Saxophonist, überraschend geerbt, habe vor dieser Erbschaft das Haus nie gesehen, daher auch nicht geahnt, welche Erbschaft er da anzutreten habe, sei ursprünglich nur hergefahren, um das Erbe zu besichtigen und rasch zu verkaufen, da er zu dieser Zeit im ferneren Ausland gelebt und gar nicht die Absicht gehabt habe, seinen Wohnsitz hierher zu verlegen, dann aber habe ihn das Haus in seinen Bann gezogen, auch, oder vielleicht sogar vor allem die Landschaft habe ihn nicht mehr losgelassen, und so lebe er nun schon längere Zeit hier, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, Haus und Landschaft jemals wieder zu verlassen. Sie gehen durch den verwilderten Garten zum Eingangstor unter dem Holzbalkon, alles wirkt auf Rosa alt und so belassen wie vor fünfzig oder noch mehr Jahren, aber nicht desolat, vielleicht ein wenig vernachlässigt, aber nicht herabgekommen. Im kahlen, riesigen Eingangsraum mit geschwungener Treppe hinauf ins Obergeschoß alte braun-weiße Kacheln im Schachbrettmuster, ein Kleiderständer mit Regenumhang, ein alter schwarzer Regenschirm, der Salon leer bis auf zwei Stühle, auf die legt der Saxophonist sein Baßsaxophon. Dann führt er Rosa von Raum zu Raum, alle leer bis auf einen Sessel und ein Instrument, in manchen in einer Ecke ein Kachelofen. Er habe, sagt der Saxophonist, im Laufe der Zeit jeden Raum durch ein Instrument definiert, den großen Salon durch das Baßsaxophon, das hintere Gartenzimmer durch das Tenorsaxophon, dem früheren Speisezimmer habe er das Sopransaxophon zugeordnet, ein kleiner Salon beherberge die Klarinette, im ersten Stock seien Baritonsaxophon, Querflöten, Baßklarinette zu Hause, in seinem Wohn- und Schlafzimmer habe das Altsaxophon seinen Platz gefunden, und im Balkonzimmer des Dachgeschoßes, von wo aus er den schönsten Blick hinab auf den See habe, sei das Sopranino zu Hause. Rosa begleitet den Saxophonspieler durch die hohen, kahlen Räume des Hauses, dunkel und kalt wirkend manche Zimmer, andere lichtdurchflutet, sonnig und warm...

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