Schlechte Zeiten für Narren?
Ich sah ihn schon von weitem. Er stand auf dem Brückensteg und starrte in den Fluß. Als ich an ihm vorbeiging, wandte er den Kopf, blickte mich aus hellen, klugen Augen an und nickte wie zum Gruß.
Als ich nach einer Weile wiederkehrte, stand er noch immer auf der Brücke. Er schien auf mich gewartet zu haben.
Seltsam, dachte ich, bei dieser Kälte!
Auf gleicher Höhe mit ihm angekommen, trat er mit einem großen Schritt an meine Seite und hielt mir eine offene Jakobinermütze hin, an deren Zipfel eine Schelle klingelte.
Ãœberrascht blieb ich stehen.
Mein Klingelbeutel, grinste er und machte eine unmißverständliche Geste.
Sie betteln, fragte ich, völlig überrumpelt. Sie?
Gerade ich! rief er aus und machte eine theatralische Verbeugung.
Euer Diener, mein Herr.
Lassen Sie diesen Quatsch.
Ich mache keinen Quatsch, mein Herr, wie Sie sich auszudrücken belieben. Vokabular und Gestik gehören zu meinem Beruf.
Wider Willen mußte ich lachen. Und was ist ihr Beruf?
Er sah mir voll ins Gesicht und sagte ernst: Ich bin ein Narr, mein Herr.
Ich glaubte, nicht recht verstanden zu haben.
Es fiel ihm nicht schwer, meine Gedanken zu erraten.
Sie haben recht gehört. Ich bin ein Narr von Beruf. Ein legitimer Nachkomme des Narren von König Lear.
Ein Spinner also. Vielleicht ein Geisteskranker?
Ich erinnerte mich einer psychotherapeutischen Faustregel: Schizophrenen sollte man nie widersprechen. Dennoch hörte ich mich erwidern: Das ist noch lange kein Grund, um betteln zugehen! Bekommen Sie denn keine Arbeitslosenunterstützung? Heutzutage wird doch jeder, der keine Arbeit hat, mehr oder weniger unterstützt.Ob er arbeiten will oder nicht.
Sein Gesicht verfiel vor Traurigkeit. Sie enttäuschen mich, mein Herr. Sie unterstellen mir, daß ich möglicherweise gar nicht arbeiten will. Das ist nicht der Fall. Ganz im Gegenteil. Es ist auch nicht eine Frage des Mehr oder Weniger. Mein Problem besteht vielmehr darin, daß mein Beruf nicht anerkannt wird. Ja, wenn ich wenigstens Schauspieler wäre, sagte man mir auf dem Arbeitsamt. Die Rolle des Narren spielten zwar viele, und nicht nur auf der Bühne, aber ein Beruf sei das nicht. Heutzutage nicht. Denken Sie, man sagte mir, ich sei ein Anachronismus. In Wirklichkeit ist mein Beruf ein Desiderat!
Ich begann zu frieren. Jetzt erst bemerkte ich, daß der Mann nur einen dünnen Mantel trug und ohne Handschuhe war.
Hören Sie, sagte ich, hier ist es mir zu kalt, um mich noch länger mit Ihnen zu unterhalten. Worauf lasse ich mich da eigentlich ein? warf ich in Gedanken schnell dazwischen, fuhr aber in meiner Rede fort. In der Nähe kenne ich ein Gasthaus. Ich lade sie auf einen Glühwein und einen kleinen Imbiß ein, wenn Sie wollen. Er schien erfreut und dankte mir mit höflichen, arabesk gesetzten Worten, während wir auf das Gasthaus zuhielten.
/ 1993