Publikationen-Suche:

Das lange Echo

Autoren: Elena Messner
Verlag: Edition Atelier, Wien, 2014
Gattung: Prosa | Veröffentlichungstyp: Buch

Kein Foto vorhanden

Textproben:

Schlafen würde sie heute nicht mehr, wieder einmal. Die Nacht schwitzte aus allen Poren, eine Hitze, die keinen Wind kannte. Die Schwüle des Sommers im Jahr vor dem großen Gedenkjahr verbreitete auf den Straßen und in den Wohnungen Wiens das Gefühl, dass alle Dinge und alle Menschen auf etwas warteten und nichts tun konnten, außer sich diesem Warten hemmungslos hinzugeben.
Diese Nacht war schon zu weit gegangen, und mit ihr war auch Vida zu weit gegangen, und dann auch noch dieser Kollege, er war sehr weit, war ihr nachgegangen, in dieser nächtlichen Hitze, die sich kaum von der Hitze tagsüber unterschied. Warteten alle vielleicht nur auf einen Wind, der alles rein fegen, der abkühlen und die heiße Nähe des anderen erträglicher machen könnte?
Dass Wien bei Nacht immer aussehen musste, als lebte hier niemand!
Rasch, rasch, bevor alles seinen hellen Glanz verlor und die Nacht um war, liefen sie die Straßenbahnschienen entlang, weiter stadtauswärts, bogen dann von den Straßenbahnschienen
ab, folgten, führungslos geworden, einem Gehsteig, der sie an Lokalen in den U-Bahnbögen vorbeiführte, aus denen plötzlich Leben in diese scheinbar tote, heiße Nacht hervorquoll. Doch, doch!, es lebte jemand in Wien. Zwei Augenpaare zwinkerten einander wie das Flackern einer defekten Leuchtreklame zu, ein Versprechen auf eine Aussöhnung, auf eine endlich gemeinsam gezogene Linie.
Sie betraten ein Lokal, aus dem Stimmengewirr und zerrende Gitarrenklänge lockten, daruntergelegt eine heisere Frauenstimme, die sang: Wir sind die Zukunft ... wir sind die Antwort. Die Blicke, der wilde Klang, die Anordnung der Flaschen in den Barregalen, die roten Ziegel, die über den Köpfen schützende Rundbögen formten, das kurze Streifen an einem anderen Menschen, der ebenfalls sein Bier, sein letztes in dieser Nacht, wie er hoffte, bestellte, all dies verhieß ihr plötzlich, dass nichts verloren war, noch nicht.
Wieder erklang der Bass. Die Scheinwerfer legten ein Licht auf die Menschen, das einmal in gelben, lila, grünen, auch in weißen oder pinken Mustern an den Wänden, über die Bühne, durch den Zuschauerraum tanzte. Es war unglaublich, als Vida durch dieses bunte Licht zunächst auf ihren Handrücken sah, danach auf ihre Handinnenfläche, die sie später wieder in die Hand des Menschen neben sich legte, es war einfach unglaublich, was da alles zu sehen war, in diesem Licht, das die Welt wahrnehmbar machte. Sie schaute in das Blitzen um sich herum, spürte, wie der farbenfrohe Lichtschein sie kitzelte, sah, wie ihr diese wirbelnde Buntheit von überallher entgegenkam, sich auf den jungen Menschen neben ihr legte. Wenn das bloß nie vorbeiginge.

Aus: "Das lange Echo" / 2014

Zurück