Beziehungsreise
Roman
Autoren: Sabine M. Gruber
Verlag: Picus Verlag,
Wien,
2012
Tschechien, im Mai
Schon gut, dass wir mitgegangen sind, mit der Führung, flüstert Sophia, stell dir nur vor, wir hätten das hier versäumt…
Marcus nickt. Nur mit Kerzen ist der Zuschauerraum beleuchtet, in dem sie sitzen, gemeinsam mit etwa zwanzig oder dreißig: Tschechinnen und Tschechen! Die verstohlen lächeln, weil sie schon bemerkt haben, dass die beiden kein Wort von dem verstehen, was der Fremdenführer erklärt. Obwohl – Drottningholm! Sagt der Führer, und Sophia nickt wissend, triumphierend. Genau, im schwedischen insel-Lust-Schloss Drottningholm befindet sich ein gleichaltriges, perfekt erhaltenes Barocktheater. Sonst nirgends auf der Welt. Die tschechische Führung ist die einzige überhaupt an diesem Nachmittag und bietet die einzige Möglichkeit, Zutritt zum barocken Schlosstheater von Cesky Krumlov zu bekommen; deutsch und japanisch wird um diese Jahreszeit noch gar nicht angeboten.
Sogar die hölzernen Sitzgelegenheiten für die Zuschauer sind original unbequem erhalten.
Wie umgedrehte Kirchenbänke… flüstert Sophia.
Wobei man dort, wo normalerweise gefaltete Hände liegen, sitzt, während unten, wo man sonst kniet, die Füße stehen.
Lustiges Gefühl, so zu sitzen! Sophia strahlt.
In den Kandelabern an den Holzwänden stecken natürlich keine echten Kerzen, doch sie täuschen echt welche vor! Der Orchestergraben ist schmal und kein Graben, die Musiker sitzen auf einer Ebene mit den Zuschauern, und mehr als zwanzig haben hier wohl nicht Platz. Und die Bühne! Die komplette höchst komplizierte Bühnenmaschinerie ist noch intakt und voll funktionstüchtig. Kulissen, Prospekte, Szenerien mit Städten, Bergen und Schlössern, phantastische Tiere mit feurig beleuchteten Augen, Windmaschinen, Regenimitatoren, Fluggeräte – alles so, als hätte es erst gestern eine Vorstellung gegeben, um ein barockes Publikum in eine perfekte Illusionswelt zu entführen.
Ein magischer Ort, sagt Sophia, versonnen, nachdem sie das Theater verlassen haben und durch den barocken Schlosspark schlendern.
Ohne dich wäre ich nie hierher gekommen, sagt Marcus.
Stimmt, aber ich auch nicht ohne dich, erwidert Sophia. Sie zückt ihren Fotoapparat und knipst ihn und das Schloss und den Springbrunnen und das Blumenbeet mit den Vergissmeinnicht. Nach diesem Wochenende wird sie Marcus um Ausdrucke seiner digitalen Bilder ersuchen. Zum ersten Mal wird sie ein gemeinsames Fotoalbum machen, eines, in dem Marcus‘ glänzend digitalen Bilder mit ihren matt analogen gemischt sind. Sie wird es ihm feierlich überreichen, wie immer nach einer Reise. Doch es wird kein Geschenk sein, so wie bisher, es wird ihnen gemeinsam gehören. Denn von nun an werden sie für immer zusammen bleiben. Schluss mit dem ewigen Stop-and-go, mit der Unsicherheit, mit dem Zittern, von einem Wochenende zum nächsten. Nicht den geringsten Zweifel mehr hegt Sophia ab sofort, an der unbegrenzten Haltbarkeit ihrer Beziehung. Ihre Beziehungen sind grundsätzlich auf ewig angelegt. Seine zwar nicht, doch nun ist er endlich und endgültig überzeugt, von seiner Beziehung zu Sophia. Er liebt sie. Ganz bestimmt! Kein Zweifel. Obwohl er in all den Jahren noch nie gesagt hat: Ich liebe dich. Auch nicht geschrieben. Er kann es eben nicht ausdrücken. Nicht in Worten. So strahlend hat sie ihn noch nie erlebt, so entspannt. Das ist doch der Beweis! Die Fotos werden es beweisen: Marcus auf einem Stein neben dem Eingang des niedrigen Hauses, lächelnd, in der Sonne, über ihm das Schild: Adalbert Stifters Geburtshaus. Und wie er so lässig auf dem Stifterdenkmal sitzt, im Wald, die Hände unverkrampft, nicht zu Fäusten geballt, die Füße baumelnd, in weichen schwarzen Sportschuhen. Ganz souverän sitzt er da, ebenso lässig und locker, wie Adalbert Stifter hinter ihm steht. Er mag diesen Dichter.
Eigentlich hieß er ja Albert, sagt Marcus.
Er hat über Adalbert alias Albert seine Dissertation geschrieben. Ein Grund mehr für Sophia, ihm gerade diese kleine Reise zu schenken. Denn Stifters Geburtshaus in Horny Plana alias Oberplan befindet sich ganz in der Nähe vom Krumau. Ebenso die Ruine Wittigstein, einst gegründet von Stifters Romanhelden Witiko. Dem Ersten. Von Krumau. Vermutet man. Die dann an die Rosenberger fiel, deren Stammsitz, die Burg Rosenberg, auch noch eine Besichtigung wert ist, auf dem Weg.
Das Absurde an der wunderbar zweisamen Reise nach Tschechien ist, dass Sophia sie ausnahmsweise nur für eine einzige Person geplant hat. Für Marcus. Als Abschiedsgeschenk.
Es ist nicht zu fern, nicht zu nah und nicht zu lang. Weil Du doch immer Sehnsucht nach Ferne hast, die Dir dann doch zu weit weg ist und zu viel Zeit kostet. Du kannst dort vieles sehen und sehr schön wandern und dabei in einen langen ruhigen Fluss schauen.
Kaum zwei Wochen liegt der endgültig endgültige Abschiedsabend in Wien zurück, der ihr beinahe das Herz zerrissen hätte. Und nun bin ich hier, denkt Sophia, mit ihm! Was für ein Wunder. Ich habe es geschafft. Wir haben es geschafft. Still in sich hinein ist sie einfach nur glücklich.
Jedes vergangene Zerwürfnis ist weit weg und jedes künftige undenkbar, Sophia ist von Zuversicht erfüllt.
Auf dem Weg zur Ruine, die sich als wenig romantischer Ort entpuppt, zeigt Marcus auf kleine und große Steine, grau, mit Flechten und mit Moos bewachsen.
Das, sagt er, das sind Stifters Bunte Steine.
Oh, staunt Sophia, die hab ich mir immer ganz anders vorgestellt. Aber eigentlich… denkt sie laut weiter, heißt bunt ja nicht bunt sondern schwarzweiß gefleckt, wie die bunten Kühe und Hunde…
Sie hält inne, erschrocken und fürchtet, dass Marcus womöglich sagt: Was du schon wieder alles weißt. Doch er sagt es nicht! Schon wieder ein Wunder an diesem mit Wundern vollen Wochenende.
Gleich bei der Ankunft ist das erste, alles entscheidende Wunder geschehen. Zufahrt zur Altstadt – verboten. Also das Auto kurz stehen lassen und zu Fuß zum Hotel gehen, die Zufahrtsgenehmigung holen. In der Zwischenzeit jedoch ist das Auto: in Geiselhaft genommen worden, mit Reifenkralle, von lauernden Stadtpolizisten. Warten. Die Geiselnehmer in der Wachstube sind: auf Mittagspause. Warten. Die Verständigung auf Tschechisch ist: schwierig. Warten. Das Lösegeld beträgt: Sechshundert Kronen.
Und keiner von beiden verliert die Nerven! Sophia nicht und auch nicht Marcus, der den Vorfall wunderbar auslegt.
Das war, sagt er feierlich, als er den Schlüssel zum Dachgeschosszimmer umdreht, im Hotel Zlaty Andel, die uns zugedachte Prüfung der Götter, und unser Brandopfer, um sie gnädig zu stimmen.
Ja, sagt Sophia aufseufzend, und wir haben die Prüfung bestanden!
Sie sieht sich im Zimmer um. Geräumig, gemütlich und hell. Und da, in der Sitzecke, auf einem Tischchen: eine kleine Flasche Sekt und frische Erdbeeren. Unglaublich. Marcus strahlt und ist ganz gerührt.
Das hast du aber schön vorbereitet…
Er gibt ihr einen Kuss.
Nein, nein, das war ich nicht, Ehrenwort! Das muss vom Hotel sein.
Glaubst du wirklich? Aber woher wissen die das. Vom Meldezettel? Mein Geburtstag ist doch schon ein paar Tage her.
Überzeugt ist Marcus immer noch nicht.
Ich glaube trotzdem, du hast das irgendwie herbei geführt.
Hab ich nicht!
Jedenfalls hast du das Hotel ausgesucht.
Ja, das schon, weil es Goldener Engel heißt…
…eben!
Wahrscheinlich, sagt Sophia, wahrscheinlich haben die Götter uns belohnt, weil wir die Prüfung bestanden haben.
Sie trinken den halbsüßen Sekt und essen genüsslich die Erdbeeren und probieren das Bett aus, am hell lichten Nachmittag, obwohl man doch hätte Wichtigeres und Sinnvolleres tun können.
So viele Wunder in dieser kleinen Stadt, die sich in einer Moldauschlinge emporwindet, so verwirrend für Sophia, die von sich behauptet: Gott hat bei meiner Erschaffung leider den Orientierungssinn vergessen.
Deshalb besteigt sie so bald wie möglich einen Turm.
Was für ein märchenhafter Turm, auf den sie da heute hinaufklettert, mit Marcus! Ein einzigartig runder Turm aus der Gotik, im später geschneiderten rosa und roten Sgraffitti-Gewand mit einem modisch grünen Renaissance-Helm oben auf. Rapunzel könnte dort oben hausen oder Dornröschen. Um zu ihm zu gelangen, muss man erst an dem Bärenpaar vorbei, das sich im Burggraben balgt, dann den ersten Hof durchqueren; gleich links im zweiten Hof des Burgschlosses findet man den Aufgang zum Turm. Wenn man endlich ganz oben steht, auf der Ebene mit den Arkaden, sieht man rundherum alles. Und die Moldau? Da ist sie! Doch auch durch das nächste Säulenpaar glitzert sie, schlingt sich um Häuser, verschwindet, taucht wieder auf, treibt ihr Verwirrspiel, ist überall.
Innen besichtigen sie das Burgschloss nicht, dafür fehlt Marcus die Geduld und es ist ihm zu teuer. Nur auf die Besichtigung des barocken Theaters besteht Sophia. Widerstand zwecklos. Und ein kurzer Besuch im Museumsshop muss sein. Sophia liebt Museumsshops. Obwohl sie nur selten etwas kauft. Hier findet sie kleine Nachbildungen von Krumauer Häusern.
Ist das nicht unser Hotel?
Strahlend hält sie Marcus ein kleines Haus aus Ton hin, gelb mit einem roten Dach, sechs Zentimeter hoch und vier Zentimeter breit.
Ist es nicht lieb?
Sie blickt ihn sehnsüchtig an und erntet unwilliges Kopfschütteln.
Wozu brauchst du denn so was.
Sie spürt einen winzigen Nadelstich. Sie kauft es. Für sich, als Andenken. Es kostet hundertfünfzig Kronen. Fünf Euro. Dazu nimmt sie einen lustigen Ausführlichen Burg- und Schlossführer: ein Faltplan mit bunten 3D-Zeichnungen der Burganlage, dargestellt wie ein Puppenhaus, in das man von oben und allen Seiten hineinsehen kann und schenkt ihn Marcus.
Später, zurück in der mittelalterlichen Märchenstadt, die all dem zu Füßen liegt, wird Sophia auf Schritt und Tritt verfolgt: vom Märchenturm. Er macht fotografiersüchtig. Von überall ist er zu sehen, und wenn Sophia endlich glaubt, den besten Blickwinkel im idealen Licht gefunden zu haben, klick! taucht er schon unter einem neuen, noch schöneren auf, noch besser beleuchtet.
Kaffee trinken am Fluss, in der Sonne; fast hat man das Gefühl auf dem Fluss zu sitzen, so hoch steht das Wasser, das hier noch wenige Wochen zuvor alles überschwemmt hat. Kaum etwas weist noch auf das Jahrhunderthochwasser hin; nur da und dort schlammiges Gras, am Ufer, so manche Terrasse wirkt neu, manches Haus frisch gestrichen. Genausogut könnte hier noch meterhoch Wasser stehen, ein Wunder… denkt Sophia, während sie Marcus im Sucher hat und abdrückt, als er vollkommen entspannt aussieht, ganz natürlich – und zehn Jahre jünger. Zehn? Na ja, vielleicht auch nur sechs.
Das Foto wird sie an eine anderes Foto erinnern; sechs Jahre zuvor hat sie es gemacht, bei ihrem ganz ersten, ganz kurzen Ausflug ins Ausland, in Rovinj, an der kroatischen Küste. Klick. Doch diese Erinnerung wird erst viel später kommen, jetzt nicht, denn jetzt denkt sie daran nicht im entferntesten: an den glückhaften Moment nach der Ankunft, am Strand, bei einem Espresso, in dessen Geschmack sich der salzige Duft des Meeres mischt; wie dieser Moment des Glücks sich ins Gegenteil wendet, später, am Abend, nach dem Essen in einem bescheidenen Lokal; unter Einfluss von Alkohol? Was sagt er zu ihr, auf dem Weg in das Privatzimmer, das er für sie beide gewählt hat, ganz billig? Ja, er sagt Dinge, die bewirken, dass Sophia sich seltsam fühlt, flau, unwohl, wie ein Gegenstand, den man vielleicht bald wegwerfen wird. Und dann, in dem schmucklosen, engen Zimmer, als ein Kleidungsstück, Jeans? sich nicht gleich von ihrem Körper lösen will, warum? fällt der Satz, abfällig: Im Bett warst du ja noch nie sehr kooperativ. Satz, Tonfall, Geste, Gesicht. Legen sich übereinander und graben eine Furche in Sophias Gedächtnis. Abfällig. Immer wieder wird die Furche aufgerissen und mit neuen schmerzhaften Sätzen und Tönen, Handlungen und Unterlassungen gefüllt werden. In Rovinj weiß sie das noch nicht, kann das Gefühl nicht benennen und würgt es unbenannt hinunter.
Jetzt, in Krummau denkt sie daran nicht im entferntesten. Sie ist eifrig damit beschäftigt, ihr Abschiedsgeschenk zu vollenden, das sich so unerwartet in ein Geburtstagsgeschenk verwandelt hat, schön, unvergesslich.
Schade eigentlich, seufzt Sophia, beim Abendessen im Restaurant Don Julius. dass wir in diesem Sommer nicht zusammen wegfahren können – oder fliegen…
Es gelingt ihr, es bedauernd zu sagen, ohne den geringsten Vorwurf mitschwingen zu lassen. Was Marcus wohl denkt? Er sagt nichts. Im frühen Frühling schon hat er entschieden, die Beziehung sei für ihn nicht in einem geeigneten Zustand für die Planung von sommerlicher Zweisamkeit. So wie schon im letzten Jahr und auch im vorletzten. Und jetzt, wo der geeignete Zustand endlich eingetreten ist – alles verplant. Eine Woche verbringt er mit seine Tochter, eine mit seinem alten Freund Lambert, und eine braucht er für sich. Ein Mini-Wunder lenkt gerade zur richtigen Zeit vom gefährlichen Thema ab. Denn während unsere beiden Helden genüsslich je ein butterweiches Stück Rindsbraten mit Rahmsauce und Serviettenknödel samt Preiselbeeren auf die Gabel spießen und dann auf der Zunge zergehen lassen, fährt die Eisenbahn ab und saust die Wand entlang. Ja! In zwei oder drei Metern Höhe fährt, zur Unterhaltung der verblüfften Gäste: eine Kleinbahn im Kreis.
Sehr nett. Sagt Marcus und grinst.
Mindestens vier Wochen am Stück werden die beiden demnächst getrennt und weit von einander entfernt verbringen und sich auch sonst nur selten sehen können, in diesem Sommer. Was nicht dazu geeignet sein wird, den geeigneten Zustand für die Planung von Zweisamkeit zu erhalten. Doch daran denkt Sophia nicht im entferntesten. Sie nimmt einen Schluck Weißwein und ist richtig glücklich.
aus dem Roman "Beziehungsreise" von Sabine M. Gruber / 2012