Mein Großvater, sagte Rosas Großmutter, hat den Teufel gesehen. Und ich, sagte Rosa, bin ein Drache, oder richtiger gesagt, eine Drächin. Also hat Rosa Drächin einen Ururgroßvater, der den Teufel gesehen hat. Weil Rosa eine Drächin ist, kann sie sich ihrem Ururgroßvater, der den Teufel gesehen hat, nahe fühlen. Dabei, denkt Rosa, müßte sie sich doch ihrer Ururgroßmutter verbundener fühlen, weil es sich von Frau zu Frau, von Ururenkelin zu Ururgroßmutter, leichter verbindet als von Frau zu Mann, noch dazu von einer solchen Frau wie Rosa eine ist, zu einem solchen Mann, wie ihr Ururgroßvater einer gewesen sein muß.
Das Problem aber, so jedenfalls sieht es Rosa, die Drächin, ist, daß sie über ihre Ururgroßmutter fast nichts weiß, weil sich die überliefernde Großmutter ganz und gar am teufelssichtigen Ururgroßvater verhängt hat. Erst Rosas Mutter, die zeitweise eine Neigung zum Hexischen gehabt hat, darauf auch stolz war, wenngleich alles nur in aller Heimlichkeit und leider ohne jede Konsequenz, was Rosa enorm bedauert, aber auch erst jetzt, seit sie selbst zur Drächin geworden ist und Himmel und Erde verbinden, sowie fliegen kann, diese leicht hexische Mutter also, hat als erste begonnen, den teufelssichtigen Ururgroßvater, oder von ihrer Warte aus den Urgroßvater, etwas aus dem Vordergrund zu Seite verschieben, um endlich auch einmal einen, wenn auch einen kleinen und zaghaften Blick auf die hinter dem Ururgroßvater versteckte Ururgroßmutter werfen zu können. Aber es war ein ganz normaler Blick, kein hexischer und schon gar kein drächischer, daher blieben mögliche Himmel - und Erde - verbindende Eigenschaften von Rosas Ururgroßmutter weiterhin verborgen, und damit die Faszination des teufelssichtigen Ururgroßvaters überragend, selbst für die Drächin Rosa.
Rosa, Rosa, Rosarot, sagte Rosas Mutter, der Großvater deiner Großmutter hat den Teufel gesehen, du kennst die Geschichte, und die Großmutter deiner Großmutter war eine Frau, die alle geliebt haben, vergiß das nie, Rosarot.
Seit Rosa mit einer dicken, aber in jede Richtung hin durchlässigen Drächinnenhaut versehen ist, kann Rosa plötzlich Dinge sehen und erkennen, die sie vorher, dünnhäutig, wie sie war, nicht sehen und nicht erkennen konnte. Wer wie Rosa mit riesenweiten, riesengroßen Drächinnenflügeln Himmel und Erde verbinden kann, kann in die Dinge hineinspüren, kann in Menschen hineinspüren und in schwarze Katzen, die in einsamen Aurachnächten auf einsamen Zaunpfosten sitzen, ja, kann sich jetzt auch in Aurachzeiten zurückversetzen, weil das Drächinnendenken eben nicht teilend, sondern verbindend ist. Die Drächin Rosa weiß es jetzt, muß sich nicht mehr mit kargen Großmutter - Überlieferungen begnügen, kann sich selbst ihr Aurachbild machen, kann sich selbst diesen Ururgroßvater ansehen, ihn betrachten, als würde sie neben ihm stehen in dieser kalten, feuchten Aurachtalnacht.
Ausschnitt aus dem Roman "Aurach". / 2001