Am Tag der Vollendung meines vierzigsten Lebensjahres wurde mir mit unbarmherziger Deutlichkeit klar, daß ich in all den Jahren mehr anständige Weine als ebensolche Menschen kennengelernt hatte. Ich war also nicht verwundert, mit einem Mal festzustellen, daß mich in den letzten Jahren der Charakter von Menschen immer weniger und der von Weinen immer mehr zu interessieren begonnen hatte. Der ohnedies nur in kümmerlichen Ansätzen vorhandene Philantrop in mir hatte sich voll Genuß von den Menschen ab- und den Weinen zugewandt. Eine Entscheidung, die nicht nur mein Vergnügen mehrte, sondern ganz nebenbei auch mein Vermögen: eine verrückte Spekulationswelle in Bordeaux steigerte den Wert meines Weinkellers innerhalb weniger Monate ins Unermeßliche.
Es fehlt mir dank einiger geglückter Börsengeschäfte ohnedies an nichts, und ich habe auch keine besonderen Ziele, die mir einen bestimmten Tagesablauf aufzwingen könnten. Ich habe keine Bindungen, keine Verpflichtungen, keine Verbindlichkeiten gegenüber wem auch immer. Kurz gesagt, ich bin ziemlich frei. Ich genieße es und wüßte auch nicht, was ich in meinem Leben anders machen sollte. Bis vor kurzem jedenfalls wußte ich es nicht.
Beginn des Romans "Yquem", erschienen im Otto Müller Verlag, Salzburg 2002 / 2002