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Stragula

Autoren: Maria Eliskases
Verlag: Bibliothek der Provinz, Weitra, 2001
Gattung: Prosa | Veröffentlichungstyp: Buch

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Textproben:

Die Katze starrte ihm entgegen. Der Alte hatte ihr ein paar Brocken Leberkäse auf ein Stück Karton gelegt, als sie zum ersten Mal hinterm Diwan hervorgekommen war. Er wollte zuschauen, wie sie fraß. Aber das ließ sie nicht zu. Sie fraß nur, wenn sie allein war. Der Karton hatte einen Fettfleck und lag halb unter dem Diwan. Die Katze sprang herunter. "Ich hab jetzt nichts für dich", sagte der Alte, während er sich hinlegte. Die schadhaften Federn gaben nach, er langte aufs Fensterbrett nach dem Gummiband der Schirmmütze, die dort bereitlag, damit er sie sich über die Augen legen konnte. Die Katze sprang auf seine Brust und wand sich, bis sie eine passende Lage fand. Sie begann zu schnurren, der Alte begann zu schnarchen. Er träumte vom Marillenbaum. Agnes stand auf der kurzen Leiter, sie hielt einen Korb und pflückte die reifen rotgelben Kugeln, die größten Marillen, die er je gesehen hatte. Der Baum wuchs neben der Kellerstiege aus einem schmalen Erdrechteck, eingefasst von Kapuzinergresse. Die Rinde war grau wie ein Wespennest, die Früchte leuchteten wie die Sonne zwischen den Doppelzacken des Georgsbergs. Agnes achtete darauf, die Marillen ohne Druckstellen zu ernten, und essen durfte man sie erst, wenn man sie genügend bewundert hatte. Die Kerne wurden über den Sommer auf dem Dachboden getrocknet und im Winter geknackt. Blausäure ist schädlich!, warnte er seine Frau, sie lachte nur. Es war ihr Marillenbaum, der täte ihr nichts. War es ein Traum oder eine Erinnerung? Eine von den vielen Erinnerungen an die guten Tage. Seltsam, er erinnerte sich an keine schlechten Tage! War er so vergesslich geworden? Gab es ein Sieb, das aussondert, woran man sich besser nicht erinnert? Gut möglich. Der Marillenbaum war in dem Sommer eingegangen, in dem Agnes starb. Der Alte öffnete die Augen und schaute hinüber: der abgesägte Stamm ragte zehn Zentimeter aus der Erde, hart wie Stein, den Wurzelstock hatte man nicht ausgraben können, die Wurzeln unterwucherten das Haus. Kapuzinergresse wuchs keine mehr. Er wusste manchmal nicht, ob er nachdachte oder träumte. Es ging alles ohne genaue Grenzen vor sich. Die Gedanken wandelten sich in Träume, die Träume wiederum wurden zu Gedanken. Und er musste weitermachen, ob er wollte oder nicht. Er tat einen tiefen Atemzug. Die Katze war so schwer. Ihr Fell gefiel ihm, er nannte es "gestromt" wegen des dunklen Streifens am Rücken. Vorsichtig schob er eine Hand unter ihren Bauch und gab ihr einen Schubs. Blitzschnell hieb sie eine der Vordertatzen in seine Brust und sprang fauchend hinunter. Sie war weg, bevor er reagieren konnte. Er hatte noch nie gesehen, wohin sie verschwand. Eine richtige Wildkatze! Der Kratzer ging tief, Blut sickerte durchs Hemd. ******************************************** Der Teppich lag zusammengeschoben an der Wand, nachts schlief Tasso vor dem Bett des Alten. Sie waren zusammengerückt, als benötigten sie nur noch diesen kleinen Teil des Hauses, das tief in den Schuttkegel hineingebaut war, dessen Feuchtigkeit die östlichen Zimmer unbewohnbar machte: Ihm genügte sein Bett mit der Gummiauflage, der Nachttisch mit Revolver und Hitlerbuch, Wecker, Windeln und die Tabletten gegen Sodbrennen. Sein Nachttopf stand unterm Bett, der Hund lag davor. Und Agnes lächelte aus dem Bilderrahmen. Was gab es denn, was so wichtig war, dass man sich darum bemühte? Manche Leute suchten ihr ganzes Leben lang krampfhaft nach irgendwelchen Dingen, glaubten trotz Niederlagen an Erfolg. Solange sie jung genug waren, um immer von Neuem wieder zu beginnen, ja. Manche fanden ihre Seele im Gebetbuch, andere in der Geldtasche. Und er? Hatte er eine Seele? Er hatte sie nie gesucht. Was ihm wertvoll schien, das waren die Berge im Süden, die Täler, die Almen, die Wälder, das Vieh auf der Weide. Wenn er je eine Seele besessen hatte, dann hatte er sie dort zurückgelassen, als er fort musste. Einen verhinderten Bauern hatte ihn Agnes oft genannt. Und es stimmte. Hätte er genug Geld beisammen gehabt, damals, als er in Pension ging, wie gern hätte er sich da einen Bauernhof gekauft, ein zwei Hektar Grund, nur soviel, um ein paar Ziegen zu halten, einen Kartoffelacker, Apfelbäume, vielleicht sogar ein Stück Wald. Er betrachtete seine Zehen auf dem verschlissenen Teppich. Jeweils die erste nach der großen war verkrüppelt, bog sich quer über die nächste. Er wusste, wovon diese Missbildung kam. Als er zehn Jahre alt war und für den Großbauern die Kühe hütete, gab's in seiner Familie kein Geld für Schuhe. Seine sieben Schwestern - bis auf eine alle älter als er - klapperten in Holzpantoffeln durch Küche und Stall, um sich das Essen zu verdienen. Die Mutter gab dem Sohn ihr einziges Paar Schnürschuhe. Die waren ihm aber zu eng. Trotzdem trug er sie, bis er seine geschundenen Füße auch mit Gewalt nicht mehr hineinzwängen konnte.

/ 2001

Am Mittwoch brachte ihm der Postbote einen Brief. Es war ein schmaler Umschlag mit schwarzem Rand. Wer war gestorben? Ungeduldig riss er ihn auf. Da schau her, der Arthur, der Grießer Arthur! An den hatte er schon jahrelang nicht mehr gedacht. In den Fünfzigerjahren hatte der Arthur ihn einmal besucht, ihm seine Frau vorgestellt, weil sie aus demselben Tal stammte wie er und mit ihrer Familie ebenfalls vor 1939 die Heimat verlassen musste. Der Name dieser Frau wollte ihm nicht einfallen. Aber er konnte ja auf der Parte bei den Hinterbliebenen nachschauen: als trauernde Gattin Johanna, las er. Stimmt, Hanni nannte Arthur seine junge Frau, die weniger mehr als halb so alt war wie er selbst, als sie heirateten. Und jetzt hatte sie ihren Arthus überlebt. Der Grießer Arthur war gleich ihm halbwegs gesund aus dem Krieg zurückgekehrt, er selbst bloß mit ein paar Granatsplittern im Rücken, die Operationsnarben waren längst verblasst, weiße Wülste krochen unterhalb der Achseln über seinen Rücken. Den Arthur hatte es weiter unten erwischt, wohl deshalb kriegten er und Hanni keine Kinder. Im Russlandfeldzug hatte Arthur ihm Befehle gegeben, war über ihm gestanden, als Offizier. Aber helfen hab ich ihm können, das hat er bestimmt nie vergessen, wenn er es auch nie zugegeben hat!, erinnert sich der Alte jetzt. Wenn doch jemand da wäre, dem er diese Geschichte erzählen konnte, die er noch niemanden erzählt hatte! Arthurs Frau lebte also, und sie hatte ihm den Partezettel geschickt, diese Johanna, damals war sie eine verdammt hübsche Frau gewesen, die würde er ganz gern wiedersehen! Wie alt mochte sie heute sein? Ach, die Rechnerei war ihm zu dumm, und begegnen würde er ihr bestimmt nie. Außer, - er fuhr zu der Beerdigung. Zum wiederholten Male studierte er den Text der Todesnachricht. "Verabschiedung" stand da. Der Arthur hat sich verbrennen lassen. Sehr vernünftig! Wenn er also hinfahren würde? "Am Samstag um 15 Uhr". Nein, entschied er, das ist nicht möglich. Er hatte schon alles festgelegt. Es blieb dabei. "Tasso, horch!" Der Hund hob den Kopf, sein Maul stand offen, er hechelte leise. Dem Alten kam vor, als sei er neugierig. Das spornte ihn an, die Geschichte so gut er konnte zu erzählen: "In Russland war's, da ist einmal unsere ganze Kompanie an eine Furt gekommen. Die Furt war aber nicht zu erkennen, weil der Fluss Hochwasser führte. Da gelangt kein Reiter trocken hinüber, das hab ich sofort gewusst. Weißt du, was es heißt, neben einem Pferd zu schwimmen und es ans andere Ufer hinüberzubringen? Das ist nicht so leicht! Die Pferde schlagen mit ihren Hufen unter Wasser aus, - und wenn dich so ein Huf trifft, dann ersäufst du garantiert!" Tasso hechelte schneller, er blickte genau in die Augen des Alten, lag ganz still, die beiden Vorderpfoten nebeneinander. Sein Schwanz zitterte leicht. Der Hund versteht mich, dachte der Alte und fuhr sich über die Stirn. Es strengte ihn an, eine lange Geschichte laut zu erzählen. Lieber dachte er sie zu Ende. Während er sich hinunterbeugte und dem Hund das Rückenfell kraulte, erinnerte er sich an die gefährliche Situation. Der Offizier Grießer, ein fescher Kerl auf seinem Pferd, hatte noch nie einen Fluss auf diese Weise durchquert, selbst konnte er wohl schwimmen, aber mit einem Pferd am Zügel? Und das eiskalte Wasser noch dazu! Es war der letzte Kriegswinter. Er warf die Zügel dem Heinrich zu, der ebenfalls bereits abgesessen war. Er, der Heinrich wusste sofort, was das bedeutete, aber konnte dieser Offizier nicht ein Wort zu ihm sagen? Bitten wäre zuviel verlangt gewesen, das durfte ja nur ein Befehl sein! Ein verrückter Befehl zwar, doch er hatte zu gehorchen. Und er zögerte nicht, war zwischen den beiden Pferden im Fluss, bevor er an die Gefahr denken konnte, und führte sie ans andere Ufer. Der Offizier schwamm hinter ihnen, wäre knapp einen Meter von den Ufersteinen entfernt beinahe abgesoffen, hätte der Heinrich ihm nicht im letzten Augenblick die Hand entgegengestreckt und ihn auf die Böschung gezogen, wo die Pferde standen und mit allen Muskeln zuckten und schnaubten, dass der Dampf um sie herum wallte. Ja, damals hatte er Kräfte gehabt, die ihm niemand zutraute, der ihn sah: ein spindeldürrer Soldat, aber voller Muskeln und Sehnen, mit dem Willen durchzuhalten, zu überleben. Deshalb war er auch zurückgekommen. Glück gehabt? Nein, an Glück glaubte er nicht. Man musste schon selber schauen, dass einem das gelang, was man sich vorgenommen hatte. Aber jetzt, - jetzt gab es nur noch eins, was er zu tun hatte. Sein Körper hatte kein bisschen Kraft mehr, was ihm blieb, war nur noch der Wille, den Schluss selber zu bestimmen. Er legte sich mitsamt den groben Schuhen auf die Daunendecke, schaute zur Agnes, die aus dem Bilderrahmen lächelte, als ihm der Zettel entglitt und er einschlief. Zwei Stunden später erwachte er frierend. Er musste sich zwingen, die Gummistrümpfe von den Füßen zu ziehen und aus den Kleidern zu schlüpfen. Tasso sah ihm genau zu. Er kannte die Rituale des Alten. Trotzdem war der Hund diesmal nicht damit einverstanden. Es schien ihm nicht die richtige Zeit dafür zu sein. "Was ist denn Tasso? Hast du jemanden gehört?", fragte der Alte. Er lag bereits unter der Decke und zog die zweite vom leeren Bett daneben zu sich herüber. "Oder ist dir zu kalt?" Der Hund schaute zum Fenster. Heinrichs Augen folgte seinem Blick. Es war nicht sehr hell draußen, ein nebeliger Novembertag. Da erkannte er, dass es noch nicht Abend war. Das Ziffernblatt des Weckers bestätigte es ihm: 13 Uhr! Und er zog sich mühevoll die Gummistrümpfe aus, die er sich kaum drei Stunden vorher mühevoll angezogen hatte! Er legte sich mittags ins Bett, weil er so müde war, als wäre der Tag vorbei! Ja, war er denn total durcheinander? Ist mir egal, knurrte er, jetzt bleib ich liegen, bis mich der Hunger aus dem Bett treibt. Wenn der Schuster kommt, muss ich auf sein, sonst denkt er, ich bin krank, weil er mich im Bett findet. Er drehte sich auf die rechte, seine bevorzugte Seite, da fiel ihm das Licht nicht in die Augen. So, jetzt war es angenehm, er lag genau in der Kuhle, die sein Körper in die dreiteilige Matratze gedrückt hatte. Er schloss die Lider und sah von neuem Wasser vor sich. Aber es war nicht der russische Fluss und auch nicht das Hochwasser am Kanal des Elektrizitätswerks, sondern ein beinah kreisrunder Bergsee, der den Himmel tiefblau, fast violett, spiegelte. Keine Wolke über den Felsen, kein Geräusch außer das Läuten der Kuhglocken. Aber wo war er selbst? Er fand sich im Gras lagernd, einen Halm zwischen den Zähnen, das rechte Bein übers linke Knie gelegt, wippend, die Augen genauso blau wie der Himmel, weil er hinauf schaute in die luftige Leere, weil er rasten durfte, kein Senner, der nach ihm schrie, kein Bauer, der ihn zur Arbeit antrieb. Er war gern allein mit dem Vieh. Ab und zu warf er einen Blick hinüber auf die andere Seite des Sees, dort standen sie, die fünfzehn Stück vom Hochleitnerhof, dem Bauern, bei dem er im Dienst war, seit er mit zehn Jahren die Schule verlassen musste. Anfangs hatte er die Ziegen gehütet, nachmittags, wenn er schulfrei hatte und in den Ferien. Er hatte sich ausgemalt, welchen Beruf er einmal erlernen wollte, sobald er die Erlaubnis des Vaters bekam. Knecht auf einem Hof zu werden und nie selbstständig, das schien ihm nicht erstrebenswert. Lieber als Handwerker auf der Stör, von Tal zu Tal... Das Almgras duftete, wilder Thymian und Majoran, dicht wie Moos, große Büschel von Minze, die Kamille mit ihren winzigen Blüten, dazwischen einzelne Brunellen, die so gut nach Kakao rochen. Er wälzte sich genussvoll mit dem Rücken in den Kräutern. Die Sonne brannte ihm auf den Schädel, die Kuhglocken bimmelten, er wurde angenehm schläfrig. Mit einem Ruck richtete er sich auf, er durfte nicht einschlafen, musste die Wolken beobachten, kannte die Wetterzeichen, denn wenn ein Gewitter nahte, sollten die Tiere schon im Stall sein. Von der Weide am See war es eine gute halbe Stunde bis zur Almhütte. Ein Wetter zieht schnell auf in den Bergen. Aber es war alles still, die Kühe lagerten und käuten, verjagten die Fliegen mit ihren Schwänzen und schüttelten die Köpfe, wenn sie um ihre Augen und in ihre Nüstern krochen. Das Bimmeln beruhigte ihn wieder, noch immer kein Wölkchen zu sehen. Heiß war ihm! Er sprang auf und lief ans Ufer. Im Laufen zog er sich das Hemd über den Kopf, ließ die Hose fallen, Schuhe trug er keine, auch Unterzeug besaß er nicht. So sprang er in den kalten See, wie ein Messer, das in blaue Seide schneidet, und wirbelte darin herum, um die Kälte zu vertreiben. Was die Kühe so erschreckte, - ob es seine Nacktheit war oder sein wildes Prusten, - er wusste es nicht, sie stürmten davon, weg vom Bergsee, so schnell wie er die gemütlichen Tiere noch nie hatte rennen sehen! Er lachte und freute sich, weil sie den richtigen Weg zur Hütte fanden. Er würde sie einholen, ob mit oder ohne Gewand! Der Alte befreite sich von den zwei Decken, er schwitzte und lauschte. Nichts, - kein Donnergrollen, kein Glockengebimmel, nur das Sirren im Ohr, das ihn immer begleitete. Der Hund stand neben dem Bett, legte den Kopf auf die Matratze und sah ihn an. Ein leises Winseln, das der Alte nicht hörte, hätte ihm zeigen sollen, dass er hinauswollte. Dringend! Tasso zog an einem Zipfel der Daunendecke. Jetzt musste der Alte ihn verstehen! Endlich setzte er sich auf. Es war so mühsam. Jaja, Tasso, ich weiß

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