1. Herbstfrühling
Manchmal gibt es Augenblicke im Leben, in denen die Zeit explodiert.
Der Urknall lässt sich erzählen.
Als Heinrich an jenem grauen Wintertag, der sein Leben veränderte, mit jenem jungen Mann, dessen Anzeige er in der Zeitung gelesen hatte, das kleine Café betrat, klopfte sein Herz bis zum Hals; Gert gefiel ihm auf Anhieb: der grosse, junge Mann mit dem kleinen blassen Gesicht und den kurzen, dunklen Haaren da ihm gegenüber, auf der anderen Seite der Strasse, war hübsch; in modische Stiefel geschnürt und leicht vornüber geneigt, legte er den Kopf etwas schief und lächelte verlegen herüber. Zwischen ihnen brauste Verkehr. Heinrich lächelte hinüber und hob ein wenig die Hand, der andere auch, man wusste, man/n hatte sich erkannt. Gert überquerte die Fahrbahn, gemeinsam betraten sie ein kleines Café auf dem Margaretenplatz, es dunkelte schon.
Draussen ging ein grauer Februarnachmittag kühl und traurig zu Ende, schmutziger Schneematsch auf allen Flächen, in allen Ritzen der Grossstadt. Drinnen, zwischen Jugendstilplüsch, Marmortischchen und Messingsäulchen, war es gemütlich und warm. Die zwei Männer nahmen Platz, setzten sich einander gegenüber, begannen zu reden und hörten nicht auf damit. Für Heinrich schien die Zeit stillzustehen. Sexhungrig war er gekommen, sehnsüchtig stand er auf. Als er sich, nach mehr als zwei Stunden Gespräch, von dem sanften, jungen Mann trennte, wusste er, was er wollte.
"Du, das tut mir wirklich leid, dass ich dich erst so spät angerufen hab," eröffnete Gert das Gespräch, "aber über deinen Brief hab ich schmunzeln müssen."-"Und ich lachen, über dein Inserat: "Mich, 26jähriger, gutaussehender Student, vergönn ich dir!" Das war wirklich frech! Wer sich so selbstbewusst auf den Markt wirft, kann nicht hässlich sein!" Gert lächelte, fühlte sich offensichtlich geschmeichelt.
"Er hat so schöne, so traurige Augen," dachte Heinrich und schaute ihm voll in`s Gesicht. Gert senkte, verschämt, den Kopf.
/ 2002