Niemand ist schöner als sie, und nur er allein hat ihre wahre, strahlende Schönheit je gesehen. Er weiß, sie liebt ihn. Läuft vor ihm her, mit wallendem Haar, fröhlich und licht. Jetzt bleibt sie stehen, dreht sich um und winkt ihm zu, mit einer Hand, so blass und vornehm, wie sie nur die Sonnenfrau hat. Wie immer ruft sie seinen Namen: Leo. Leise ruft sie ihn mit ihrer hauchdünnen Stimme, die so flüchtig ist wie ein Sonnenstrahl selbst. Und wieder: Leo. Ja, sie wartet auf ihn, die Sonnenfrau. Dass er kommt und sic in ihre Arme wirft. Er beeilt sich, läuft schneller und fällt über die Stimme seiner Mutter:
„Leo!“ Auch sie ruft ihn, aber es klingt nach zersplittertem Glas, das ihn schneidend zurück in die Wirklichkeit fallen lässt. „Träumst du wieder?“
Die Zeitungen rascheln, hochglanzpolierte Illustrierte wie es sie in jedem Wartezimmer gibt. Seine Mutter schaut auf Leos Hände, unauffällig, aber er bemerkt ja doch, wie sie ihn mustert, die Narben, die ihm vorzeitig das aussehen eines alten Mannes verleihen. Dann beugt sie sich wieder über ihre Zeitschrift, zurück zu den Menschen mit samtener Haut, die sich für schön halten, denn sie kennen die Sonnenfrau nicht, die Unterbelichteten. Sie ahnen nicht, wie hässlich sie dagegen sind.
Die Augen des Mädchens, das ihm gegenüber sitzt, kleben a dem altmodischen UV-Schutzanzug, den er trägt. Es ist klein, höchstens fünf, wie damals Akne, als sie begann, seine Zeichnungen zu durchkreuzen und ihn dafür zu strafen, dass Mama sofort angelaufen kam, wann immer er weinte. Er einen Ton von sich gab.
Leo stößt mit Krallenhänden nach vorn, und tatsächlich schrickt das Mädchen zurück. Leo muss lachen.
“Leo!“ Wieder das splitternde Glas, doch bevor seine Mutter reden kann, öffnet sich die Tür zum Behandlungszimmer, und die Sprechstundenhilfe ruft seinen Namen. Und den Namen seiner Mutter.
Als er an ihr vorbeigeht, schenkt sie ihm ihren mitleidigen Besser-ich-bekomme-nie-Kinder-Blick; dann betreten sie das Behandlungszimmer, in dem Dr. Merkuri sich gerade die Stirn abwischt. Wie immer hinter dem Schreibtisch verschanzt. Seit sie sich kennen: Hinter dem Schreibtisch. Seit fast vierzehn Jahren, seit der Himmel sich verdunkelt hat, und der Ostseestrand, an dem sie soeben noch ihren Urlaub verbracht hatten, ihm fortan als gleißendes Stück Scheiße erschienen war; seit er nicht mehr der ist, an den er sich nicht einmal mehr erinnern kann; seit er im Alter von zwei Jahren mit dem Bericht des Facharztes zurück an den Hausarzt überstellt wurde. Diagnose: Es bleibe Nacht.