In Wien, als Heinrich mit dem Denken begann, als die Schlucht des Denkens in ihm immer tiefer wurde, vor allem aber, als er im Seziersaal des anatomischen Instituts die vielen mit Karbol präparierten Leichen herumliegen sah, violettgrau und nach Karbol stinkend, ein viertel, halb oder ganz aufgeschnitten, das Körperfett der Toten unter die Seziertische geschmiert und ihre Knochen nach Gebrauch in Kübeln gesammelt - da bekam sein Jenseitsglauben den ersten wirklichen Knacks.
Die Hostie sei der durch die Wandlung wiederauferstandene "Leib des Herrn", hatte man ihn gelehrt. Auch er werde einst, nach seinem Tod, wieder auferstehen, war ihm verheissen worden. Bis jetzt hatte er die Story geglaubt, im Seziersaal geriet der Glaube ins Wanken.
Der Junge, zu dem sich Heinrich seit Griechenland hingezogen fühlte, wollte Arzt werden, begann gerade mit dem Studium. Mit seiner Hilfe organisierte Heinrich die Leichenbeschau, alle Philosophiekollegen gingen mit. Sie zogen weisse Mäntel über und gaben sich als erstsemestrige Mediziner aus. "Das kann doch nicht wörtlich gemeint sein," witzelten sie noch tagelang nach dem Erlebnis auf dem philosophischen Intstitut herum, "das mit dem jüngsten Tag, dem jüngsten Gericht! Wie will denn Gott wissen, welcher Knochen zu welcher Leiche gehört? Und überhaupt, ob er da einfach pfeift? Und auf einen Schlag fliegen die zusammengehörenden Knochen aus den Gräbern aufeinander zu und setzen von sich aus den wieder auferstandenen Menschen zusammen? Nein, das geht auch wieder nicht. Was ist denn mit denen, die verbrannt worden sind? Holt Gott da die Asche aus dem Fluss? Und wie bekommen die Knochen wieder ihr Fleisch, ihre Eingeweide, ihr Bindegewebe? Das ist ja alles inzwischen längst verfault. Und wie kriegen die Dicken ihr Fett, das grauviolette Fett, das die Medizinstudenten aus Spass unter den Seziertischen verstrichen, um ihr Grauen zu bändigen?"
So witzelten sie sich den Kinderglauben aus dem Kopf. Dass aber die Religion, der Katholizismus, nicht nur in ihrem Kopf war, sondern - vor allem - in ihren Körpern; dass er ihre Körper von Anfang präpariert hatte, wie die Mediziner die Leichen; das wussten sie damals noch nicht. Vielleicht wissen es manche von den damals jungen Leuten heute noch nicht. Für Heinrich sollte es noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, ehe er sich von dieser Stanze endgültig befreit hatte. Er war, das wusste er, auf der Suche nach Sinn, nach einer sinnvollen Aufgabe, aber auch, und das wusste er nicht, auf der Suche nach seinem Körper.
/ 1983