Ich habe im November 1997 das Häuschen meiner Großeltern in der Abtenauer Ortschaft Leitenhaus gekauft. Die angeheiratete Tante Lisi wollte für das ungeliebte Erbe ungefähr eine Million, „hisch a Millei“ sagte sie, doch mein Mann und ich hatten uns ein Limit gesetzt, siebenhunderttausend Schilling sollten uns die nostalgischen Gefühle maximal wert sein.
Der Kauf war so abgelaufen, wie sich im Gebirge bei den Bauern die Geschäfte abwickeln. Zum Verhandeln luden wir die Tante in ein Gasthaus ein. Mein Mann, der mich aus unserem Geschäftsleben als Profi kennt, nicht aber die Verhandlungstaktiken der Bauern, verfolgte verwundert den Ablauf dieses besonderen Geschäfts. Nachdem wir gegessen und dabei über alles Mögliche, nur nicht über den Kaufpreis geredet hatten, führte ich nach Stunden das Gespräch einmal sanft zur Sache.
Bis der endgültige Kaufpreis von sechshunderttausend Schilling – also doch in einiger Entfernung von der Million - festgelegt war, waren noch einmal einige Stunden vergangen. Immer wieder drehte die Tante Kopf und Oberkörper von mir weg, wenn ich die Hand zum Einschlagen ausstreckte, mit immer neuen Argumenten mußte ich auffahren. Den Ausschlag gab zum Schluß der unklar ausgedrückte Letzte Wille meines Onkels Loisei, den ich der Tante überzeugend ins Bewußtsein rief. Er hatte in seinem handgeschriebenen Testament festgehalten, daß das Haus nach seinem Tod an seine Familie zurückfallen sollte. Das Wort ”sollte” stellte keinen eindeutigen Willensausdruck dar, darum war die Tante Lisi Erbin geworden, nachdem der Notar allen Betroffenen von Erbstreitigkeiten abgeraten hatte.
Nun hatte ich also ein Stück Kindheit zurückgekauft. Das Stück Kindheit stand immer noch behäbig und breit und doch zierlich - ganz wie in meiner Erinnerung - da, wenn ich es aus einiger Entfernung betrachtete. Von der Nähe besehen hatte es sich aber doch verändert: Der Garten war verwildert, das Pflaster vor dem Haus rissig, der rosarote Putz an vielen Stellen abgebröckelt, die Fensterflügel waren ausgetrocknet und verzogen.
Ich öffnete die Haustür mit dem Schlüssel, der jetzt mir gehörte. Im Vorhaus roch es muffig, und ich trat in die Küche und erblickte die vertrauten Möbel in ihrem vertrauten Erbsgrün, die Kredenz, die Anrichte, die Eckbank, den rechteckigen Tisch, die Bank, auf der die blecherne Waschschüssel gestanden war, das Stockerl, das die Großmutter gebraucht hatte, um die nassen Wäschestücke auf die hoch angesetzten Ofenstangen hängen zu können. Andere vertraute Dinge fehlten: die Kuckucksuhr, der die Großmutter jeden Abend mit einem lauten Ratsch die Zapfen nach oben gezogen hatte, das alte Radio auf der erbsgrünen Konsole, über dem Diwan, auf dem mein Onkel Loisei oft faul gelegen war. Auch der Diwan war nicht mehr derselbe, und die rot-weiß-karierten Vorhänge waren neu. Durch die Tür neben dem Diwan gelangte ich in das Schlafzimmer meiner Großeltern. Hier stand noch immer der alte Schubladkasten, in dessen drei Laden meine Großmutter die Wäsche verstaut hatte, auch der kleine Holzofen mit dem langen Rohr war noch in der Ecke, aber die Betten waren ausgetauscht worden. Ich stellte mich an das Fußende des linken Bettes, genau auf diesem Platz hatte ich mich von meiner toten Großmutter vor vielen Jahren still verabschiedet. Mein Mann sah mich an und legte seinen Arm um meine Schulter.
Dieser Geste des Trostes bedurfte ich noch oft während der nächsten Zeit. Die gesamte Verwandtschaft - Menschen in stattlicher Zahl, da das Lammertal ein in sich abgeschlossenes Gebiet ist - kam, um die Verrückten zu bestaunen, die eine Ruine gekauft hatten, eine “Bockhütte”, wie es eine meiner Kusinen offen aussprach. Ich sah einige hinter unserem Rücken das bewußte Zeichen an die Stirn machen, manche faßten mich mitleidig und forschend ins Auge, ob ich etwa schon die Anzeichen des sich auflösenden Geistes im Gesicht trüge. Da sie alle in der Heimat wohnen und diese ihnen somit nichts Besonderes ist, konnten sie mich nicht verstehen. Für mich aber war nach vielen Jahren der Abwesenheit die Heimat wieder magisch anziehend geworden, die Heimatliebe habe ich bis heute, so sehr, daß mir in jedem Zeitungsbericht das Wort Abenteuer als Abtenauer ins Auge springt, und obwohl oder gerade weil sie nicht zeitgeistig ist, und obwohl ich gern in Leonding bei Linz arbeite und mich in unserem Haus in Altmünster zu Hause fühle, und obwohl Paris meine absolute Lieblingsstadt ist.
Nach dem Willen meines Vaters sollte ich als Kind nicht auswärts schlafen. Manchmal durfte ich aber nach langem Bitten und Betteln doch bei den Großeltern übernachten. Im Schlafzimmer standen die Betten der Großeltern, ein Ofen mit einem langen Rohr, ein Schubladkasten, der Kommodkasten genannt wurde, und ein kleines Bett. In diesem Bett hat früher die Greti geschlafen, die älteste Tochter der Nani-Mami. Da sie eine Ledige war und die Nani-Mami vor ihrer Ehe zu einem Bauern arbeiten gehen mußte, war die Greti von meinen Großeltern aufgezogen worden. Das Bett war mit einem Strohsack gefüllt, dieser diente als Matratze. In der Mitte bildete sich bald eine Mulde, aus einem Bett mit einem Strohsack konnte man also kaum hinausfallen, man lag darin wie in einer Hasensasse.
So viel ich gebettelt hatte, bei meinen Großeltern übernachten zu dürfen, so sehr übermannte mich in der Nacht dann oft das Heimweh nach meiner vier Kilometer entfernten eigentlichen Familie. Wenn es nach dem laut aufgesagten Vaterunser mit Gegrüßtseistdumaria und abschließendem Jesukindleinbleibbeimir im Stübl meiner Großeltern ruhig wurde, hatte ich große Zweifel, daß ich die Nacht seelisch überstehen würde. Ich hörte das ungewohnte Bachrauschen und das schwere Atmen meines Großvaters, der bei Tag sein Pfeiferl und seinen Kautabak genossen hatte und nun in der Nacht an seinem Asthma litt.
Während ich so mager war, daß mir beinahe die Ohren abstanden, war meine Schwester ein sehr rundliches Kind mit einem Gesicht wie eine Puppe. Da unser Altersunterschied doch ziemlich groß war, hatten wir viele Jahre lang auch unterschiedliche Interessen. Gemeinsame Spiele kamen in meiner Mittelschulzeit nur zustande, wenn sie das Dienstmädchen und ich die Gräfin gab. Sie durfte mich dabei von vorn bis hinten bedienen, während ich auf dem Diwan lag und Schundromane las. Ich schaffte ihr an, mir eine Haferflockensuppe zu kochen und den Haushalt in Ordnung zu bringen. Als Dank für die Herablassung durfte sie mir mit einem Knicks die Suppe servieren, und sie mußte mich natürlich siezen, während ich sie duzte und herunterputzte, wenn sie meine Aufträge nicht prompt und zu meiner Zufriedenheit erfüllte. Sie durfte höchstens mit einem Jawohl, Frau Gräfin! antworten, denn längere Reden hätten mich beim Lesen gestört.
Wenn ich nach den Ferien wieder ins Internat mußte, taten mir meine Herrschaftsallüren furchtbar leid, ich weinte Rotz und Wasser aus Reue und vorausempfundenem Heimweh, und sie versteckte sich - auch weinend - hinter den Futtermittelsäcken im Magazin.
Von Parasiten wurden wir wie alle Kinder damals öfters heimgesucht. Winzige weiße Würmer aus dem Darm verursachten uns einen unerträglichen Juckreiz am After. In der Nacht kamen sie heraus um ihre Eier abzulegen, so weit hatte sich die Muttl informiert. Wenn ich gerade gut in meinem Gitterbett am Fußende der Ehebetten schlummerte, erhob sie sich mit eingeschalteter Taschenlampe wie ein Einbrecher, drehte mich auf den Rücken und leuchtete mir fahndend in mein Unaussprechliches. Statt dankbar für die Sorge zu sein, wurde ich immer sehr grantig, wenn sie mich derart aus dem Schlaf riß. Gegen diese Würmer sollte ich auf Anordnung meines Vaters den kostenlosen eigenen Morgenurin trinken. Das brachte ich trotz seiner im Selbstversuch demonstrierten Harmlosigkeit nicht über mich, und als die grauenhaft schmeckende Knoblauchmilch keine Wirkung zeigte, kaufte die Muttl ein Wurmmittel. Das waren winzige graue Kugeln, die man zerbeißen mußte, und die dann ganz scharf auf der Zunge brannten. Da diese Medizin wirkte, wollten sie auch die Nachbarinnen für ihre Kinder haben, und zwischen der Muttl und den anderen Frauen entspann sich ein ausführliches Wurmgespräch. Dabei schnappte ich auf, daß der Lechner Rudl Spulwürmer hatte, so lang wie Regenwürmer, und daß ihm einer gar aus dem Mund gekrochen sei. Da grauste mich vor dem Rudl ein paar Jahre lang, und ich spielte mit ihm nur mehr im äußersten Notfall, wenn sonst gar niemand greifbar war.
Für die oftmalige Kopflausinvasion bei uns Kindern war die Muttl gewappnet. Sie hatte einen schwarzen Lauskamm mit ganz feinen Zähnen, alle paar Tage fuhr sie uns damit probeweise durch die Haare. Manchmal krabbelte dann wirklich eine kleine helle Laus über den schwarzen Kamm, und bevor sie entwischen konnte, war sie schon vom Daumennagel der Muttl geknackt. Nun wurde der ganze Kopf nach Nissen abgesucht, besonders die Stellen hinter den Ohren und am Haaransatz. Wenn einen die Läuse in großer Zahl überfallen hatten, wurde der Kopf mit dem Insektenvertilgungsmittel DDT eingepudert, mit einem Tuch eingebunden, um das Mittel einwirken zu lassen, und anschließend kräftig gewaschen.
Später habe ich im Naturgeschichteunterricht erfahren, daß dieses Gift vom Körper nie mehr abgebaut werden kann. Da habe ich mit Schrecken an meine beste Freundin daheim, die Haigermoser Kathi, gedacht, denn ihre Mutter hatte oft die ganze Küche mit DDT bestäubt.
Die Moizhof-Bauern, von denen alle Gründe - auch unserer - in der Umgebung stammten, hatten ihren Hof nach und nach abgewirtschaftet. Die Moizhoferin war eine Tante meines Vaters, die Schwester seiner früh verstorbenen Mutter. Wir sagten „Urschi-Tant” zu ihr. Der Moizhofer war trinkfreudig wie mein Großvater, auf dem Heimweg vom Wirtshaus verließen ihn manchmal kurz vor dem Ziel die Sinne und Kräfte. Er sank ins Gras neben dem Weg, und bis er sich wieder aufgerappelt hatte, war ihm die Brille von der Nase gefallen und konnte nicht mehr gefunden werden. In diesen aussichtslosen Fällen wurde meine Muttl geholt, die rief den heiligen Antonius zu Hilfe und konnte so dieses und jedes andere verlorene Stück wiederbekommen. Ich hatte einmal beim Blumenpflücken auf der Wiese hinter unserem Haus die Schere verloren. Eine Schere war damals ein kostbarer Gegenstand, daher suchte die Muttl, stundenlang den heiligen Antonius anflehend, bis sie das unentbehrliche Utensil gefunden hatte.
Ich mußte jeden Tag beim Moizhof die Milch holen. Der angriffslustige Hahn, der zwischen Haus und Stall umherstolzierte, ließ mich zwar mit der leeren Milchkanne ins Haus hinein, mit der gefüllten aber nicht mehr hinaus. Er flog mich an und pickte mich in alle Körperteile. Meistens konnte ich die Milch retten, wenn ich sie aber einmal verschüttete, füllte mir die gute Urschi-Tant die Kanne wieder. Einmal war er mir gar ins Gesicht geflogen und hatte mir eine Wunde neben dem Auge zugefügt. Von diesem Tag an setzte mir die Muttl zum Milchholen die Motorradbrille meines Vaters auf. Derart ausgerüstet trat ich dem Hahn viel selbstbewußter gegenüber, er unterließ jedenfalls seine Attacken.
Mitten in der Nacht ist die Muttl zwei- oder dreimal zum Moizhof geeilt und hat dort eine Kuh gemolken, weil mir furchtbar übel war, wahrscheinlich hatte ich etwas Schlechtes gegessen. Kaum hatte ich die kuhwarme Milch geschluckt, konnte ich alles von mir geben. Kuhwarme Milch wäre sicher auch heute noch ein Brechmittel für mich.
Im Moizhof ging es oft lustig her, viele Nachbarn und Freunde trafen einander zu einer Kartenrunde: der alte Brettfeicht-Bauer, der Lipp, in dessen Haus das Tafelmacher-Karei ihr Zimmer hatte, der Lenz, der einzige Sohn vom Lipp, der Lehrer wurde und ganz jung an Kinderlähmung gestorben ist, mein Vater, manchmal auch der Hitzenbichler Hias, der später Schuldirektor in Abtenau war, und der Koder Hansi, auch ein Nachbar. Da ich hier beim Kartenspielen oft zusah, konnte ich mit etwa vier Jahren schon alle Karten benennen, was meinen Vater und die Stammrunde offensichtlich mit Stolz erfüllte, denn sie prüften mich häufig in Gegenwart von Neuzugängen, indem sie eine Karte hochhielten, und ich schnell „Oachi Inta“, „Lab Kining“ oder „Sche Sima“ rief.
Die Zwilling-Wagner-Marie hatte lange Zeit ihre Enkelin, die auch Inge hieß und einige Jahre älter als ich war, in Pflege bei sich. Die Inge mußte sich während dieser Zeit den Blinddarm operieren lassen. Als sie aus dem Spital wieder zu ihrer Oma kam, besuchte ich sie gleich. Die Inge spielte am Küchentisch mit einer graubraunen Knetmasse, aus der sie Tiere, Blumen und Puppengeschirr formen konnte. Da ich so ein Spielzeug unbedingt haben wollte, fragte ich sie, wie das hieße und wo man das zu kaufen bekäme. Sie antwortete, daß das ihr Blinddarm sei und daß man sich den schon herausoperieren lassen müsse, um mit ihm spielen zu können. Ich verlangte daheim eine sofortige Blinddarmoperation, und meine Muttl konnte mich nur mit Müh und Not von der Unwahrheit dieser Geschichte überzeugen. Knetmasse bekam ich aber trotzdem keine, so etwas Ausgefallenes war in Abtenau nicht aufzutreiben. Die Inge gab mir leider kein bißchen von ihrem angeblichen Blinddarm ab, und ich kam auch nicht auf den Gedanken, ihr heimlich etwas wegzunehmen.
/ 2001